Ein Botschafter für die Gäubigen

■ Der jüdische Kantor ist mehr als ein Vorsänger. Der Gesandte der Gemeinde baut eine Brücke zwischen Gläubigen und Ewigem

Wir wissen wohl, dass die Vox humana –die menschliche Stimme – von biologischen Gesetzen abhängt, die wir kaum beeinflussen können. Wir wissen auch, dass diese Stimme sprechen, lachen, singen oder gefühlsam bitten, energisch befehlen, aber nicht zuletzt eindrucksvoll beten kann. Der jüdische Kantor kann diese Ausdrucksweisen nicht voneinander trennen: In seiner Stimme wird das jüdische Schicksal von den alltäglichen Sorgen bis zu den Neigungen an das Unerreichbare verschmolzen und nach oben gerichtet. Nicht wie in der Oper, wo der Startenor gerade die Heldentaten darstellt, die wir niemals vollbringen könnten. Auf der Bühne scheint alles etwas idealistisch, etwas unrealistisch zu sein. Wenn Lohengrin oder Don José zu klein, zu dick oder zu alt sind, kommt das Publikum nicht mehr. Deshalb hören die großen Tenöre meist auf der Höhe ihres künstlerischen Könnens auf.

Doch der jüdische Kantor tut mehr, als die Zuhörer zu Tränen von Lachen oder Weinen zu rühren. Er singt alleine oder mit Begleitung eines Chores und einer Orgel jeden Schabbat für seine Gemeinde, d. h. Freitagabend und Samstagvormittag, und schafft die Schabbat-Atmosphäre für die Gläubigen. Er segnet den Wein am Ende des Gottesdienstes und singt dazu herrliche Tiraden, die unserer Seele mehr bedeuten als das Opfer, das eigentlich dahinter steht. Der Kantor betet für die Gemeinde. Er ist nicht der Organist wie in der Kirche und auch nicht der Vorsänger, wie man ihn fälschlicherweise nennt, sondern er ist Schaliach Zibbur – der Gesandte der Gemeinde. Ein Botschafter, der die Brücke zwischen uns Gläubigen und dem Ewigen baut. So scheint es bei dem jüdischen Kantor denn irgendwie anders zu sein als bei dem Opernsänger: Der Kantor fängt im Alter von 60 Jahren so richtig an! Die Glaubwürdigkeit, die menschliche Größe, die Erfahrung mit Freude und Kummer macht aus ihm eine führende Figur im Gemeindeleben.

Estrongo Nachama war solch ein jüdischer Kantor, der verstanden hat, aus diesen Erfahrungen traurige und fröhliche Feste, Trauungen und Beerdigungen, Synagogenweihe und Bar-Mizwa-Feier zu gestalten. Wie ein Dolmetscher übersetzte er akribisch unsere aus innen herausstrahlende Bitte, erhört zu werden, in eine Sprache, die nur die Auserwählten verstehen, eine Sprache, die nicht aus Worten und Sätzen besteht.

Der jüdische Kantor dient mit seiner Stimme. Er wäre der einzige, der sich den wohlverdienten Ruhestand gönnen könnte, aber ein Aufhören mit dem Singen, mit dem Beten, mit dem Dienen schien für Estrongo Nachama unmöglich. Obwohl die Aufgabe mit dem Alter schwieriger und schwieriger wird: Am Neujahrsfest oder am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, die Gebete vorzutragen, bei den Beerdigungen am Grabe der Bekannten, oft guten Freunden, oder an Simchat Tora, dem Torafest, die immer schwerer werdende Torarolle in der Hand zu halten und damit tanzend die Freude an der Schrift einer ganzen Synagoge weiterzugeben. Alles meisterte er mit einer Kraft, die ihm sein fester Glaube verliehen hatte.

Ich persönlich finde es faszinierend, dass der aus Griechenland stammende und nach der Schoa in Berlin beheimatete Oberkantor mit sephardischem Hintergrund die Musik der aschkenasischen Juden auf seine Flagge schrieb und sie in seiner Synagoge in der Berliner Pestalozzistraße hochhielt.

Er war der erste und leider auch der einzige, der die Musik der Berliner Synagogen in der Form, wie sie bis 1938 gang und gäbe war, wieder eingeführt hat. So hat er bis zu den letzten Tagen seines Lebens mit dem gemischten Chor und Begleitung der Orgel den Gottesdienst gestaltet, und so hat er einen Ort für die Kunst der Synagoge geschaffen, die in unserer Erinnerung immer für ihn erhalten bleiben wird. Andor Izsák

Der Autor ist Direktor des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik in Hannover