Reinigung. Katharsis. Aufklärung.

Altkanzler und Schäuble wechselten mit ihren TV-Auftritten zum CDU-Spendenskandal den Verhandlungsort und machen aus Eingeständnissen Beichtshows ■ Von Georg Seeßlen

Der Schritt von der Politik zur Metapolitik, vom Parlament ins Fernsehen, wird vom Medium nicht sonderlich befragt

Wenn uns vor ein paar Jahren jemand erzählt hätte, es würde zu Beginn der Berliner Republik ein politisches Stück aufgeführt, in dem Waffenhändler und „Unbekannte“, Geld in Plastiktüten und Aktenkoffern, Ehrenworte, die wichtiger als Gesetze sind, und verschwindende Akten in Zusammenhang mit der christlichen Partei die Hauptrollen spielen, hätten wir ihm oder ihr vermutlich geantwortet, die Verhältnisse seien zwar vermutlich nicht besser, aber doch nicht so stockdumm.

Anscheinend ist das Stück nun im dritten Akt, dem Kritiker vorschnell den Titel „Vatermord“ gegeben haben. Metapolitisch gesehen geht es dabei nicht bloß darum, so lange weiter zu vertuschen und zu verleugnen, bis das Interesse an diesem Handlungsstrang erloschen ist, sondern auch um ein „Ende der Ära Kohl“. Das ist hübsch anzusehen und wäre von Engels ebenso gut wie von Freud zu beschreiben gewesen, wie die Horde den bösen Vater zugleich ermorden und bewahren will. Aus dem rituellen Kannibalismus der Urhorde ist dabei in der christlich-demokratischen Horde eine Form von Sprach- und Medien-Kannibalismus geworden, ein Fall für künftige Ethnologen und Psychohistorikerinnen.

Einerseits sehen wir dem Schmierenstück in einer Mischung aus Faszination und Ekel zu, der sich mählich vom Moralischen ins Körperliche dehnt: der Kamerablick auf den um sich selbst herum redenden Schäuble und daneben Angela Merkel mit stierem Blick wird allmählich zu einem Grenzfall des Erträglichen. Dramaturgisch gesehen also wächst die Sehnsucht nach irgendetwas Erlösendem, mythologisch gesehen: Jetzt muss jemand geopfert werden. Das freilich ist die Meta-Ebene des Stückes: Niemand traut sich, die Rolle des zweiten Vatermörders, nämlich des Schäuble-Antagonisten zu spielen, und niemand will, sozusagen kurz bevor der Vorhang fällt, in die Rolle des Opfers gedrängt werden. Die Schauspielerhorde sucht einen Autor!

Da wieder einmal die Kritiken geschrieben sind, bevor das Stück zu Ende ist, haben wir uns als Aussage auf „Abschied und Neuanfang“, wenngleich mit einigen, sagen wir: nicht ganz geschmackssicheren Retardierungen, geeinigt. Nicht nur das Ende der Ära Kohl muss kommen, sondern auch des „Systems Kohl“. Eine Reinigung. Katharsis. Ja, auch Aufklärung

Wie aber, wenn es sich genau anders herum verhielte? Wenn der „Skandal“ nicht etwa die Abschaffung dieses Systems bedeutete, sondern im Gegenteil dessen vollständigen Sieg? Es war ja nur der bescheidene skandalöse Kern dieses Systems, dass dubiose Gelder auf dubiose Weise zu dubiosen Zwecken am Ende nichts anderem als einer Selbsterhaltung der Macht dienten. Der große Mantel dieses Systems indes war die Umwandlung der parlamentarischen Demokratie in ein mediales und mafioses Machtsystem; wie beim Geld geht es auch bei der Macht darum, die Sache an den zentralen Einrichtungen dieser Demokratie vorbeizubringen, am demokratischen Text (dem Recht) und an der demokratischen Öffentlichkeit, dem Parlament als Ort der Verhandlung.

Ort der Verhandlung aber war – und dies war so ausdrücklich inszeniert, dass niemand es übersehen konnte – in beiden Fällen nicht das Parlament, sondern das Fernsehen. In beiden Fällen hieß dabei die Aussage: Es ist nicht so schlimm, wenn man im Parlament, äh, nicht die ganze Wahrheit sagt, solang man hinterher im Fernsehen beichten geht. Die Beichte freilich wurde in beiden Fällen in Sendungen abgenommen, die so zentral auf und für den Beichtenden zu-inszeniert waren, dass man ihn nicht nur als Beichtenden, sondern auch als Autor einer Beicht-show sehen musste. Diese strukturelle Missachtung des Parlaments, dieser beherzte Schritt von Politik zur Metapolitik und vom Parlament ins Fernsehen, wird vom Medium, wen wundert es, nicht sonderlich befragt. Und schon gar nicht wird diesem Vorgang Widerstand entgegengesetz.

Käme vielleicht ein Redakteur oder eine Redakteurin auf die Idee, einem Politiker zu bedeuten, er möge die Wahrheit doch bitte, bevor er sie in die Kameras beichtet, erst seinem ureigenen Medium, der Volksversammlung, offenbaren? Im Fernsehen hat der Beichtende den Skandal noch weitgehend unter Kontrolle, er ist mehr Geste als Diskurs, mehr Melodram als Verhandlung. Im Fernsehen wird aus einem Rechtsbruch eine Geschmacksfrage, nichts, was man nicht durch die jeweils nächste Inszenierung wieder gutmachen könnte.

Unser Fernsehen nämlich ist nicht nur ein Instrument, es ist ein Teil des Systems Kohl.