„Ich trinke ein Glas, und die Sache ist geritzt“

Auf, auf, zum Weltenbrande: Lehrreiches, Praktisches und Anekdotisches in drei neuen Büchern zum großen russischen Anarchisten und Meister der Revolution, Michail Bakunin

Alles schien jederzeit möglich. Und „alles“ – das war die Revolution. „Das Wort unmöglich gehört der Vergangenheit an, nicht der Zukunft!“, so hieß es 1848, und so sollte es so lange heißen, bis der Geist der totalen Freiheit ganz Europa erfasst haben würde. Michail Bakunin war der begeistertste und begeisterndste Revolutionär, den das vorletzte Jahrhundert gesehen hat. Immer unterwegs im Dienst des neuen Menschen und der Freiheit. Wo immer er ankam, begeisterte er die Menschen für sein totales Freiheitsstreben.

Sein Freund, der russische Schriftsteller Alexander Herzen, hat das einmal so beschrieben: „Ist nicht bereits dieser Zug imposant, dass Bakunin, sobald er (...) zwei, drei Wesenszüge seiner Umgebung erfasst hatte, die revolutionäre Stimmung separierte und sich unverzüglich daranmachte, sie voranzutreiben und das Feuer anzufachen, indem er die Revolution zu einer leidenschaftserfüllten Lebensfrage machte?“ Das klingt ein wenig theoretisch. Bakunin selbst schildert seine Methode der Revolutionärsrekrutierung so: „Jeden Tag treffe ich neue, ausgezeichnete Freunde. Ich lerne jeden einzeln kennen, ich trinke ein Glas mit ihm, und die Sache ist geritzt.“

Manchmal rekrutierte er aber auch zur falschen Zeit am falschen Ort. Als er im Frühjahr 1849 all sein Streben auf eine Revolutionierung Böhmens richtet, bricht der Aufruhr ganz in der Nähe seines damaligen Wohnortes Berlin, in Dresden aus. Obwohl man mit dem Barrikadenbau nicht auf ihn gewartet hatte, ist der Vordenker des Anarchismus gleich mit dabei und bereit, die Führung des Aufstandes zu übernehmen. In die Zeit der Dresdner Kämpfe fällt seine Begegnung mit Richard Wagner, der von der Erscheinung Bakunins erschüttert war. Begeistert stellt er fest, „dass in diesem Menschen eine völlige kulturfeindliche Wildheit mit der Forderung des reinsten Ideales der Menschlichkeit sich berührte“.

Von der Begegnung der beiden gibt es eine große Zahl schönster Anekdoten. Der Berliner Bakunin-Wiedergänger Bernd Kramer hat viele von ihnen jetzt in einem sehr schönen Anarchismus-Lesebuch unter dem Titel „Laßt uns die Schwerter ziehen, damit die Kette bricht ...“ versammelt. Zum Beispiel: Als der Barrikadenkämpfer Bakunin schon polizeilich gesucht wurde, kam er noch einmal in die Semperoper zu einer Aufführung der Neunten Symphonie unter der Leitung Wagners. Nach dem letzten Ton stürmte er auf die Bühne, umarmte Wagner und erklärte feierlich, dass, „wenn alle Musik bei dem erwarteten großen Weltenbrande verloren gehen sollte, wir für die Erhaltung dieser Symphonie mit Gefahr unseres Lebens einzustehen uns verbinden wollen“. Bernd Kramer ist mit seinem anekdotisch-anarchistischen Stil und seinem ungeheuren revolutionär-schwadronierenden Elan ein wunderbares neues Bakunin-Buch gelungen. Kramer liebt Bakunin. Und Liebe zum Gegenstand und mangelnder Abstand zum Thema sind im Falle des großen Anarchisten, der viel mehr durch seine Person, den Mythos seiner Person und seines Lebens als durch seine Schriften wirkte, ein großes Plus.

An Liebe und an Begeisterung mangelt es leider etwas der neuen großen, allumfassenden Bakunin-Biographie von Madeleine Grawitz. Auf 550 Seiten wird hier das Leben des russischen Revolutionärs in all seinen Facetten ausgebreitet. Eine große, faktenreiche Fleißarbeit. Die Lektüre ist ein absolutes Muss für den Bakunin-Freund. Ein Standardwerk. Nur – der Spaß beim Lesen ist eher begrenzt. Auf Seite 333 beginnt schon das Kapitel „Das Ende der Träume“. Da liegen allerdings noch 200 Seiten vor einem, die dann etwas zäh werden.

Gänzlich unzäh und in knappster Knappheit kann man sich mit Hilfe eines Projektes der Künstlergruppe AV 88 über die Botschaft des russischen Anarchisten informieren. Die versammeln dreizehn Freiheitsparolen Bakunins in einer schönen blauen, handlichen, versiegelten Wurfflasche. Zum Lesen, Lernen, Werfen oder ins Regal stellen.

Volker Weidermann

Madeleine Grawitz: „Bakunin. Ein Leben für die Freiheit“. Edition Nautilus 1999. 558 S. 68 DM Bernd Kramer: „Laßt uns die Schwerter ziehen, damit die Kette bricht ...“ Karin Kramer Verlag 1999. 255 S. 48 DM Die Wurfflasche ist über den Verlag Edition AV 88, Postfach 50 02 02, 60 392 Frankfurt/M. zu beziehen