Ein Mann wird durchleuchtet

In seinen Träumen gescheitert, beruflich halbwegs erfolgreich, sozial verwirrt, emotional überfordert und unglücklich – das ist der Held in dem neuen Roman von Doris Dörrie. Das Komische ist: Bald findet man diesen notorischen Lebenskrisler sympathisch ■ Von Dirk Knipphals

Niemand wird diesem Roman nachsagen können, dass er seine Leser durch eine besonders originelle Handlung zu blenden versuche. Im Grunde wird hier Altbekanntes verhandelt. Auch in Bezug auf den Stil, die Erzählperspektive und das Romanpersonal sind Innovationen kaum zu vermelden. Aber dieses Buch hat andere Qualitäten, große sogar. Um von ihnen zu berichten, muss man eigentlich sofort auf Fred Kaufmann zu sprechen kommen.

Fred Kaufmann, so heißt hier die Hauptfigur, und wer meint, dass Schriftsteller ihren Helden so nennen, wenn sie ausdrücken wollen, dass es sich um einen Menschen wie du und ich und unseren Nachbarn handelt, der hat ganz Recht. Fred Kaufmann ist 44 Jahre alt, und einst – das ist nun aber schon wieder etwas her – hat er das Studium an der Filmhochschule geschmissen. Dann hat er Claudia, seine Frau, kennen gelernt, hat mit ihr zusammen eine kleine ökologische Imbisskette aufgemacht und eine Tochter gezeugt. Als die Ökowelle abschwappte, sind sie fast Pleite gegangen, doch haben sie sich noch einmal retten können, indem sie frühzeitig auf den nächsten Ernährungstrend umsattelten. Seitdem ziert das Schild „bagels & coffee“ ihre Filialen.

Wenn die Tochter sichin einen Lama verliebt

Finanziell geht es Fred Kaufmann also gut, kürzlich hat er sogar ein Paar teurer Schuhe in London gekauft. Dafür befindet sich seine Ehe in der Dauerkrise. Seine Frau liest ein Buch mit dem Untertitel: „Wie du glücklich sein kannst, wenn du es nicht bist“, und ein gutes Zeichen ist das keineswegs. Um den Hals trägt sie das rote Erkennungsband eines buddhistischen Weisen namens Tubten Rinpoche. Zu allem Unglück hat sich die inzwischen 16-jährige Tochter noch in einen jungen buddhistischen Lama verliebt. „Ich bin im Begriff, meine Familie zu verlieren“, so lautet der erste Satz des Romans, und man sieht schon, worauf das alles hinausläuft: Fred Kaufmann ist ein ganz normaler Held unserer Tage – in seinen Träumen gescheitert, beruflich halbwegs erfolgreich, sozial verwirrt, emotional überfordert und unglücklich.

Das hört sich zunächst nicht nach einer besonders inspirierenden Lektüre an, und in der Tat könnte, wer diesem Roman Böses wollte, behaupten, er sei zielgerichtet um die aktuellen sozialen Problemzonen herum konzipiert. Ulrich-Beck-Leser und sonstige Anhänger der soziologischen Individualisierungsthese dürften jedenfalls aus dem zustimmenden Kopfnicken kaum herauskommen, so sehr bilden Patchworkbiografien und Individualisierungsrisiken den Hintergrund des Geschehens. Da der zweite Teil des Buchs in einem buddhistischen Kloster in Frankreich spielt, kann man sogar noch die Globalisierung mit hinzuziehen, und damit hätte man wohl alle Schlagwörter zusammen. Gäbe es den inzwischen ja weltweit florierenden Austausch an religiösen Lebensbewältigungstechniken nicht, brauchte sich Fred Kaufmann zumindest nicht mit den täglichen 108-maligen Niederwerfungen seiner Frau herumzuschlagen.

Schon wahr: Der Roman „Was machen wir jetzt?“ wildert in einem Bereich, in dem sich die gute alte „Lindenstraße“ und weiß Gott so mancher Kitschbestseller tummeln. Es ist der Bereich der Beziehungskrisen, der Sinnsuchen, der Mühen der Ebene also, die so ein Menschenleben macht, das in seiner Jugend von den Ausläufern der 68er-Bewegung nicht ganz unbehelligt blieb und nun mit der Alltäglichkeit einer wenigstens halb bürgerlichen Existenz konfrontiert ist. Wer das Vorhaben, hierüber relativ unverblümt einen Roman zu schreiben, nicht mutig nennt (denn die Gefahr des Absturzes ist bei kaum einem Gebiet irgendwo höher), der mag es als dämlich bezeichnen. Und in der Tat kann man dem Buch einiges vorwerfen. Tatsächlich ist der soziale Alltag ja mit Klischees vermint, nicht an jedem kommt der Roman vorbei.

Aber die Qualitäten dieses Romans überwiegen die Schwächen um Längen. Zunächst mal ist das Buch gut erzählt, mit sparsam eingesetzten Mitteln, einem an den amerikanischen Realisten geschulten Blick für Einzelheiten und einer zurückhaltenden, aber genauen Sprache. Die Dialoge sind klasse, stets auf den Punkt gebracht. Und es herrscht ein fast schon als meisterhaft zu bezeichnendes Gefühl für das Timing der Szenen vor.

Szenen einer Reise,die ins Skurrile kippen

Im ersten Teil des Buches etwa fährt Fred Kaufmann seine Tochter ins buddhistische Kloster nach Frankreich – sie soll, so das Kalkül, dort ihren Lama treffen und ihn bald satt haben –, und wie sich hier Szenen der Reise, die allmählich ins Skurrile kippen, und Erinnerungen an die Vorgeschichte abwechseln, das ist schon sehr gut gemacht. Aber mit solchen Hinweisen auf die handwerklichen Aspekte ist noch gar nicht viel gesagt. Die eigentliche Qualität des Buches liegt in seiner Haltung. Wenn man sie mit einem Wort bezeichnen sollte, so passt vielleicht dies am besten: Sie ist erwachsen. Und das, nicht wahr, ist bei den vielen Jungschriftstellern, die derzeit mit Debüts herauskommen, schon mal was.

Fred Kaufmann hat längst die Zeit hinter sich, in der er sich noch etwas beweisen muss. Und die Erzählerin, das ist spürbar, hat es auch. Sie lässt sich auf die melancholische Grundhaltung ihres Helden auch gar nicht ein, sondern nutzt seine Krisen zu Schilderungen aus dem alltäglichen Beziehungskampf, dem Geschlechterverhältnis und schließlich von Einzelheiten aus einem Buddhistencamp. Dabei bleibt sie sachlich, keine ihrer Figuren will sie in die Pfanne hauen. Nur kann man eben die Erzählerin manchmal förmlich lächeln sehen.

Auf knapp dreißig Seiten vergaloppiert sich der Roman dann doch. Das ist, nachdem ein Mann zu Tode gekommen ist – plötzlicher Herzanfall beim Fahrradfahren. Es war, so stellt sich heraus, ausgerechnet der Liebhaber von Fred Kaufmanns Frau. Natürlich ist das etwas arg konstruiert, vor allem schaut in der Folge dieses Todes die Dramaturgie der Reise zu sich selbst, die der Roman verfolgt, allzu deutlich durch. Möglicherweise sind die Gedanken, die Fred Kaufmann nach dem Unglücksfall hegt, für unsereinen einfach zu buddhistisch.

Aber hier hat sich ein heimliches Einverständnis des Lesers mit dieser Figur bereits eingestellt. Spätestens ab der Hälfte folgt man ihm durch dick und dünn. So nahe hat ihn die Erzählung einem schon gebracht. Aber, und das macht eine weitere Qualität dieses Buches aus, einen gewissen Abstand zu ihm hält man immer; vielleicht lässt sich die Lesehaltung am besten als sympathetisches Zugucken bezeichnen. (Wie das Identifikationskonto einer weiblichen Leserin genau aussieht, weiß ich nicht; Claudia, die Ehefrau, bietet sich zur Identifikationsfigur jedenfalls auch nicht restlos an.)

Gleichsam gnadenloseLebensklugheit

Ein Mann wird durchleuchtet: Fred Kaufmann. Sein Innenleben wird nach allen Regeln der Kunst auseinander genommen, aufgeschraubt und wieder zusammengesetzt, bis wir ihn am Schluss genau zu kennen meinen.

Bis in seine Masturbationsfantasien hinein wird er mit einer gleichsam gnadenlosen Lebensklugheit geschildert. Und das Komische ist: Je mehr Weinerlichkeiten und Schwächen, Zimperlichkeiten und Unsicherheiten wir kennen lernen, desto sympathischer finden wir ihn. Das ist vielleicht die größte Qualität dieses Buches. In einer solchen Weise habe ich diesen Effekt zum letzten Mal beim Lesen von Nick Hornbys Roman „About a Boy“ erlebt.

Wer versucht, das Buch und seine Hauptfigur irgendwo in der deutschen Literaturszene zu verorten, der kommt in Schwierigkeiten. Natürlich ist man sofort versucht, den Roman irgendeinem Mainstream zuzuordnen, aber schon auf den zweiten Blick kann man sehen, dass dabei etwas nicht stimmen würde. Denn dass der literarische Mainstream hier zu Lande in genau beobachteten und klug aufgeschriebenen Alltagsgeschichten aus dem Leben der Nach-68er besteht, das wird niemand behaupten wollen.

Auch wenn man sicher sein darf, dass es da draußen in der Wirklichkeit eins, zwei, drei, ganz viele Fred Kaufmanns gibt, hat dieser Typus in der Literatur derzeit doch einen schweren Stand. Es dominieren die Kältelehren, die forciert zur Schau getragenen und bis zum Ende durchgespielten Individualisierungsszenarios. Da ist es doch mal ganz gut, von Leuten wie Fred Kaufmann zu hören. Ein wenig kann man zwar schon den Verdacht hegen, dass man im Alterssegment von, sagen wir: Mitte dreißig bis Mitte fünfzig sein muss, um diesen Roman wirklich schätzen zu können. Aber: Was soll’s?

Ach ja, die Autorin heißt Doris Dörrie. Nach einem halben Dutzend Bänden mit Kurzgeschichten ist es ihr erster Roman. Nebenbei dreht sie Filme. Ihr neuer Film, „Erlösung garantiert“ betitelt, kommt am kommenden Donnerstag in die Kinos.

Doris Dörrie: „Was machen wir jetzt?“ Diogenes Verlag, Zürich 2000, 304 Seiten, 39,90 DM