Die Melancholie des Waschbrettbauchs

■ Aufschlussreiche Auskünfte aus der russischen Kontaktanzeigen-Kolonie Berlins

„Netter russ. Ex-Matrose Gay 25/177/68 sportlich, Body unbehaart, aktiv, realisiert tabulos & fantasievoll. Mit Zeit und Spaß 0177-xxxxxxx“

Manchmal kann ich nicht schlafen. Dann vermisse ich den Wellengang. Oder die Geräusche vom nahen Rangierbahnhof sind zu laut. Mein Fenster ist immer auf, auch im Winter. Einmal kam eine Taube ins Zimmer – und fegte mehrere Gläser vom Regal. Übrigens war ich bei der Flussschifffahrt. Das ist mein erster Auslandsaufenthalt. Anfangs war ich über die vielen SS- und SA-Schwulen hier entsetzt – bis ich dahinter kam, dass es bloß „Safer Sex“ und „Sado-Anal“ bedeutete.

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„Russo: groß, behaart, tätowiert 0177-xxxxxxx“

Den kleinen Doppeldolch am Arm habe ich mir hier machen lassen. Ist keine gute Arbeit geworden. Aber der das gemacht hat, war in Ordnung. Im Prenzlauer Berg – im Tattooladen der Rockergruppe „Born to be wild“ war das. Die haben jetzt irgendwelche Schwierigkeiten mit der Polizei gekriegt. Aber das ist, wie gesagt, nicht der Grund, weswegen ich da nicht mehr hingehe.

„Ehem. Offizier der Roten Armee 29/181/75 Gay 0177-xxxxxxx (mehrmals versuchen)“

Vorgestern lief die Waschmaschine des Mieters über mir aus. Wir kennen uns, ich lief sofort hoch, als es anfing, immer stärker zu tropfen. Statt sofort alles aufzuwischen, setzte er sich an sein Klavier und spielte Chopin. Ich setzte mich schließlich daneben und hörte zu. Anschließend tranken wir noch Tee. Leider sind meine Tapeten jetzt völlig versaut.

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„Neu: 2 geile attraktive Jungs aus dem Herzen Russlands 24/187/74 und 25/188/75 mit trainiertem Körper und Waschbrettbauch 01723-xxxxxxx“

Nach Feierabend gehen wir in verschiedene Fitness-Clubs. Ich mag die türkischen ganz gerne, er nicht so. Das liegt aber daran, dass ich die Sprache ein bisschen kenne. Das meiste habe ich jedoch vergessen. „Yeni solo“, so hieß mal eine türkische Zeitung, nun ein neues Toilettenpapier. Auf Deutsch heißt das: „Jetzt jeder für sich!“ Hier gibt es dafür auch noch den schönen Ausdruck: „auf eigene Faust“. In Russland hat man eine neue Zeitschrift ebenfalls Solo genannt und in Berlin eine Schwulenzeitung Sergej – so heißt mein Partner.

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„Made in Russia! Ex-Soldat 25/184/75 blond, blaue Augen, sportl. trainierter Körper, dominant 0.00 – 24.00/ xxxxxxx“

Das ist genau genommen gar nicht meine Profession. Eigentlich bin ich nämlich Tierdresseur und das habe ich auch beim Militär gemacht: Da habe ich Hunde dressiert, versucht zumindest. Es gab da einen Armeezirkus, da war ich angegliedert. Aber „Ex-Soldat“ klingt knapper – und stimmt auch insofern, als ich es immer noch ein bisschen leidig finde, mich so viel um mein eigenes Wohlbefinden kümmern zu müssen – obwohl das nun schon eine ganze Weile so geht, gehen muss.

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„Bauarbeiter aus dem Ural, durchtrainiert und belastbar. Ruf an: 0177-xxxxxxx“

Ich habe so eine zupackende Art, hat mal jemand gesagt. Dabei war ich die letzten zehn Jahre Bauingenieur und habe fast nur am Computer gesessen. Der das gesagt hat, war selbst ein Ingenieur, wahrscheinlich wollte er das so haben. In meinem nächsten Leben werde ich ein Sportler aus Samara sein – wenn alles gut geht. Damit will ich sagen, dass ich noch experimentiere. Ich führe Tagebuch.

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„Immer geiler Boy aus Sibirien 22/185/75 a/p gut bestückt, verwöhnt Ihn mit Niveau. Besuch und Empfang 0177-xxxxxxx“

Das erste Gay-Filmfestival in Tomsk 1996 war wie ein Rausch. Im Nachhinein. Man kann ja nicht glücklich sein und es gleichzeitig registrieren. Ein US-Atomphysiker hat meinen Ring gesprengt. Eigentlich wollte ich ihm nachreisen. Zur Zeit lasse ich mich treiben. Vielleicht sollte ich mir die Haare kurz schneiden. Neulich habe ich meine Zähne machen lassen. Ich esse zu viel Zucker. Manchmal fahre ich nachts auf den Berliner Ring und setz mich in eine Raststätte. Mit Handy geht das. Schön ist es auch, bei Regen die Frankfurter- und Karl-Marx-Allee hoch zu fahren. Und dabei laut Radiomusik zu hören. Wenn man das Gefühl hat, in den ganzen anderen Autos hören sie jetzt den selben Sender, dann empfindet man sich auf geheimnisvolle Weise mit allen in der Stadt verbunden.

Protokoll: Helmut Höge