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Kleine Wurstanthropologie ■ Von Wladimir Kaminer

Ich war auf der Grünen Woche 2000, die zur Zeit gerade in Berlin stattfindet. Dort schaute ich in das „Nationale Schaufenster der deutschen Tierzucht“ rein. Doch das Interessanteste auf dieser Leistungsschau waren nicht die Kühe und die Ferkel in zeitgemäßen Ställen, sondern wie die verschiedenen Volksmentalitäten ihre jeweilige nationale Küche ausprägen. Alles dreht sich im Grunde um die Wurst. Aber es gibt keine für alle – jede Nation hat ihre eigene Wurst.

Die Deutschen zeichnen sich zum Beispiel durch ihre historisch begründete Angst vor Hunger und Not aus sowie durch den deutlichen Drang, um jeden Preis die Zukunft zu sichern. Deswegen sind auch die deutschen Würste meist riesengroß und enthalten Konservierungsstoffe. Sie sind besonders haltbar und lassen sich lange lagern, werden aber von den Deutschen am liebsten sofort aufgegessen: Was man im Bauch hat, kann einem keiner mehr nehmen.

Die Franzosen dagegen zeigen, was man mit einer Wurst so alles machen kann, wenn man sie nicht gleich aufisst. Im Laufe der Jahre wird ihre Wurst immer dünner, luftiger, heller, teurer, trockener und verwandelt sich in ein Kunstwerk. Bei manchen französischen Delikatessen ist man nicht sicher, ob das noch Wurst ist oder schon Käse. Die Schweden beweisen, das man eine Wurst auch unter schwersten Naturbedingungen im nordischen Wald erzeugen kann, selbst in solchen Gegenden, wo es nicht einmal mehr Schweine und Rinder aushalten. Die schwedische Holzwurst zum Beispiel begeisterte selbst anspruchsvolle Messebesucher – wie mich. Ähnliches lässt sich auch von der schwedischen Eichhörnchen-Wurst sagen.

Die nationale Küche der Tunesier und der Marokkaner ist eine Überlebensküche – sie lehrt uns, wie man in einer Wüste zur Not auch ohne Wurst klar kommt. Aber Vorsicht! Die Wüste täuscht! Oft weiß man dort nicht, was man eigentlich auf dem Teller hat. Manchmal ist es auch besser, es nicht zu wissen. Ich war sehr überrascht, als ich beim Verzehren irgendwelcher trockener Gemüsewürstchen plötzlich bemerkte, das diese alle kleine Äuglein hatten. Sie erwiesen sich dann als getrocknete Heuschrecken. Die Israelis hauen alles mögliche in die Pfanne. „Alles lässt sich verbraten!“, lautet die weise Botschaft aus dem Nahen Osten.

Die USA – das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und die Heimat von Microsoft – waren auch diesmal moderner und origineller als die europäischen Nationalküchen. Hinter einem fünf Meter langen Stand sah man drei Männer, die wie Doppelgänger von Dean Reed aussahen. Über ihnen hing ein Plakat mit der Aufschrift „America's Soft-Icecream“.

In den blauen Augen der Repräsentanten konnte man lesen: „Wir, Amerikaner brauchen nicht mehr zu essen. Höchstens an einer Icecream-Wurst ein paarmal lecken und dann volle Kraft voraus!“

So weit ist Europa noch lange nicht. Dennoch muss man sagen, dass der an sich ärmliche lettische Messestand an Originalität den Amerikanern bereits das Wasser reichen konnte. Anstatt Lebensmittel konnte man dort nur Starenkästen bewundern – in sechs verschiedenen Formen, darunter auch schöne runde mit Bernstein verziert. Die fünf russischen Messestände präsentierten das Hauptprodukt des Landes, und jeder Stand pries natürlich seine eigene Sorte als die Beste. Dieses Hauptprodukt war in Gläsern, Flaschen, Fässern und sogar im Samowar zu haben. Dazu – Bonbons. „Lasst uns keinen Kult aus dem Essen machen!“, sagen die Russen, aber anders als die Amerikaner.

Der gelbe Kaviar am iranischen Stand erinnerte an Sadam Hussein und an seine chemischen Waffen. Bei diesem Produkt war man sich nicht sicher, ob es nur aus Fischen oder gar aus andersdenkenden Fischern gepresst wurde.

Und noch eine wichtige Entdeckung habe ich dieses Jahr auf der Messe gemacht: Die polnische Krakauer passt geschmacklich hervorragend zu schwedischem Hirschblut, das ist ein Schnaps. Schade, dass sie nicht im Doppelpack zu haben sind.