Berlin protzt mit Zahlen – aber hat es Stil?

Im Vergleich zu anderen Hauptstädten wirbt Berlin für sich vor allem mit Superlativen und mit seinen niedrigen Preisen ■ Von Patricia Morand

Paris ist herrlich, Milano exquisit, Barcelona atemberaubend und Berlin – da sucht man noch. Egal. Hierher kommen Millionen von faszinierten Besuchern. Könnt ihr euch noch an die Millennium-Nacht erinnern? Da hatten wir sogar gewonnen: Doppelte Menschenmenge wie sonstwo, Millionen von Schaulustigen und Glühbirnen, Kilometer von Feierstraßen und Ordnungskräften, tausende von Containerklos und Tonnen Abfall, Hunderte von Hausbränden und Verletzten und Fluchtsonderzügen. Das ist nur ein Beispiel. Denn Berlin wirbt für sich immer mit Zahlen. Die neue Metropole wiegt 999 Milliarden Euro, das soll die Welt beeindrucken und erschlagen.

„Berlin in Zahlen“ heißt die von der Stadt herausgegebene Broschüre, die jeder Tourist gratis bekommt. Keine Beschreibung, wenig Fakten, dafür eine stolze Aufzählung der Monumente, der Prominenten und des Mülls. Daraus ergibt sich, dass hier alles riesig, gigantisch und unbezahlbar ist. So das angebotene Image. Wir wissen es zum Glück anders.

Frankreich, Italien preisen Exklusivität, Rarität, Kuriosität, Qualität an. In Berlin befriedigt man sich erst mal mit Quantität und Popularität. Das ärgert umso mehr die deutschen Denker, die seit jeher auf Werbung skeptisch, kritisch oder wütend reagieren. Darin stecke Manipulation, Ideologie, Kitsch, Lüge. In den lateinischen Völkern kommt Publizität nicht unbedingt in Konflikt mit Kultur und Zivilisation. In ihr entdeckt z. B. Roland Barthes Urmythen und Emanzipationspotential. Für die deutsche Elite ist sie mit Vorherrschaft, Imperialismus, Konsumzwang verbunden.

Das anpassungsfähige Volk macht aber fröhlich mit, klettert neugierig und strahlend auf die Infobox und bewundert die 900 Kräne der kühnen Baustellen der Umgebung. Alles ungeheuer, effizient, hochtechnologisch und teuer. Superlativ. Schaustelle Berlin wird wie der Aufbau der Stalinallee in der Geschichte bleiben.

Die Schaffung eines Ereignisses ist werbewirksam. Berlin ist glücklicherweise für die Welt auch die Stadt des Karnevals der Kulturen, des größten Schwulenfestes Europas und der verrücktesten Love Parade der Welt. Dazu kommen die etablierten Happenings: Berlinale, ITB, Frauentag, Grüne Woche, Liebknecht-Luxemburg-Demo und zwischendurch umstrittene Premieren im BE und im Deutschen Theater. Berlin pflegt jede Kundschaftsklasse. Siegessäule und Freiheitsstatue verschwimmen miteinander.

Freies Berlin hat auch nichts gegen die Hanfparade und träumt davon, das Tacheles zu institutionalisieren. Besetzte Häuser, Pittbullkämpfe, abgefackelte Luxusautos oder die gespannt erwarteten Randalen des 1. Mai sind auch irgendwie ein Grund für Stolz und Freude und Wessi fragt sich, warum Ossi nicht mitmacht.

Schaufensterkunst lässt leider in Berlin weiter nach. Auch so viele Werbeschilder sind ungeschickt. Schreiend. Importiert. In der Friedrichstraße wird es deutlich sanfter, sodass man nur Planet Hollywood mühelos entdeckt. Der Potsdamer Platz funkelt rot-und-orange-freundlich: „Er symbolisiert die Macht der Konzerne und die Kraft des Kapitals“, meint der noch nicht befreite Kardinal Georg Sterzinsky. Hier sind die Neonleuchtschilder banal bis zur Platitüde, aber klar erkennbar. Das muss ja sein, denn Imax hat die größte Leinwand Deutschlands, Cinemaxx die größte Anzahl von Kinosälen und der Berlinale-Palast die größte Anzahl von Sitzplätzen.

Und dann noch die Präsentation! Megaberlin setzt auf Menge, Symmetrie und Glanz. Nichtigkeiten, die in Torino oder Toulouse mit einer stilisierten Unordnung angeboten werden, sitzen wie Bleisoldaten da. Dieses ungemütliche Merchandising wurde grenzenlos Richtung Ost entwickelt: Aldi, Netto, Plus, Extra erreichen Gipfel von Effizienz und Seichtheit. Jede Packung plump, aber strategisch hingestellt. Dabei denkt man unwiderruflich an die feinen Etiketten Bayerns, wo Dichter und Künstler den spannenden Auftrag bekommen, Wein, Käse oder Honig zu verherrlichen.

„Warum stürzen sie denn alle in die Hackeschen Höfe?“, dieses historische Bauensemble mit heute überwiegend kultureller und gastronomischer Nutzung in Berlin-Mitte, staunen kopfschüttelnd die Kreuzberg-Ansässigen. Tja! Hat Berlin andere Inseln von Ästhetik und Charme? So viel aufgemotzten Schick würden die Mauerwaisen gerne beschmieren, aber Toleranz muss sein: In den Höfen flanieren sensible Minderheiten – Juden, Gays und Bonner. Letztere sollen sich aber auch zwischen den Zweckbauten der Friedrichstraße wohl fühlen. Dort wirbt Berlin einladend weit und breit mit dem komischen Kölschbier.

Billig-Berlin wirbt lautstark mit dem Preisargument. Markenartikel erfreuen noch Japaner, Italiener und Dandys. Sonst kommt man mit den Imitaten zurecht. Einmalig und authentisch muss nicht sein. No-Names und Kompatibelgeräte machen Furore, und nach dem Motto „Weder Rasse noch Klasse“ hat man nichts gegen anonyme, mysteriöse EU-Lebensmittel.

Laufende Waren und vor allem Boomprodukte (Handy, Internet, Investmentfonds) verkaufen sich so oder so mit irgendwelchen trampeligen Strategien. Für den Rest haben wir in jedem Szene-Café die Edgar-Postkarten, die kostenlos sind und mit Werbung bedruckt. Sie sind genial und unwiderstehlich. Auch die ewig unzufriedenen Kneipenphilosophen greifen zu. Edgar bedient Kunden, die sich noch tapfer um Kunst, Selbstbewusstsein, Glamour, Status und Hedonismus kümmern. Dazu braucht man Talent, Fantasie und Niveau. Merci, Edgar – pass nur auf, das dich Siemens und Telekom nicht langsam in die Terra cognita der gängigen Plumperias zurückrufen.

Wahnsinn-Berlin bietet Schrott und Plunder in den teuersten Gebäuden zu lächerlichen Preisen. Während der petit touriste in Avignon nach drei Tagen sein Feriengeld ausgegeben hat, kann er hier unendlich einkaufen. Am Potsdamer Platz isst man chinesisch für 5 Mark. Im wunderschönen Kultcafé Wellenstein am Ku’damm kostet eine Mahlzeit im Schnitt nicht mal mehr als im knallroten Burger King nebenan. Mit 20 Mark in der Tasche hast du Kinokarte und Abendessen – damit bekommst du in Milano 20 Spaghettis. „Berlin in Zahlen“ heißt also auch „mehr für sein Geld“. Das Reisebüro im Europa-Center sagt es auch: „Bei uns 30 % mehr Urlaub“.

„Démocratisation du prestige!“, wunderte sich eine französische Frau, als sie für 1 DM durch das ganze Adlon spazieren durfte. Das reicht in Cannes knapp für ein Kneipenklo. Danach verlor sie sich im dunkleren Prenzlauer Berg, demjenigen jenseits der Danziger Straße – also Rive gauche. Dort blieb sie monatelang. Vor dem Abschied hinterließ sie einen Koffer bei einer Freundin. Für alle Fälle.