Raster aus dem Reich der Schlipse

Standort Deutschland (VIII): Krefeld ist mit rund 250.000 Einwohnern keine kleine Stadt. Doch eine Viertelmillion zählt im Schatten des Ruhrgebiets nicht viel. Selbst die Jahreskrawatten sind in der Stadt aus Samt und Seide zu bunt und zu breit ■ Von Thomas Sakschewski

Die delikaten Exponate im Deutschen Textilmuseum brauchen jeden nur denkbaren Schutz. Das merken auch die Besucher. Sie tapsen durch die kühlen und dunklen Ausstellungsräume und müssen sich erst langsam daran gewöhnen, dass die schummerige Beleuchtung nur angeht, wenn sie den Raum betreten. Das Museum für Laien und Fachbesucher in Linn, einem Stadtteil von Krefeld, präsentiert in Rotation kleine Ausschnitte aus einer umfangreichen Sammlung von knapp 25.000 „Läppchen“, wie man im Rheinland sagt, also kleinere und größere Stoffbeispiele.

Die knapp 7.000 Besucher, die das Deutsche Textilmuseum jährlich aufsuchen, erfahren im Halbschatten alles über Kettstreifen, Kantenbesatz und Reservefärberei; über Herkunft und Geschichte der Läppchen werden sie keine Zeile lesen. Das wäre zu profan und irgendwie auch unseriös, denn Museum bedeutet unter den Zinnen der Burg Linn noch beschützen und bewahren. Von Begreifen und Berühren mag man hier nichts wissen, und wenn Carl-Wolfgang Schümann, Direktor des Museums, das jemals hätte andern wollen, so hat er diesen Vorsatz schon lange aufgegeben: „Es ist eben doch ein sehr spezielles Museum, und man muss eben auch sagen, ein sehr spezielles Publikum, nicht das landläufige.“

Das Deutsche Textilmuseum wurde 1880 als „Königliche Gewebesammlung“ zu Studienzwecken für die jungen Dessinateure der „Höheren Gewebe- und Färbeschule“ gegründet, denn Krefeld lebte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von der Seidenweberei. „Aber diese große Zeit ist dahin, in der die Krefelder Seidenindustrie wirklich noch etwas war“, bedauert der Direktor des Museums und begründet damit auch gleich, wieso so wenig Besucher sich hierher verirren. „In dem Maße, in dem die Textilproduktion in Krefeld zurückgegangen ist, ging auch das Interesse der Bevölkerung zurück, weil sie ja nicht mehr, wie es früher einmal war, im täglichen Leben mit dem Textil zusammenkamen.“

Krefeld ist mit rund 250.000 Einwohnern keine kleine Stadt. Woanders wäre das Oberzentrum am linken Niederrhein zumindest von regionaler Bedeutung, doch im Schatten des Ruhrgebiets zählt eine Viertelmillion nicht viel. Angrenzend an Duisburg und die Landeshauptstadt Düsseldorf muss sich Krefeld schon doppelt anstrengen, um den Fremden die „Stadt wie Samt und Seide“ anzudienen. Da schnitzt das Presseamt mit spitzer Feder am Bild der Stadt: „Eingebettet in das ‚platte‘ Grünland zwischen Rhein und Maas bietet Krefeld eine überschaubare City im rechtwinkligen Raster zwischen ‚vier Wällen‘ und hübsche, teils mittelalterlich erhaltene Stadtteile.“ Geraden Weges verläuft die Einkaufsmeile, die Hochstraße, durch die rechtwinkligen Raster der Innenstadt. Die als „Kommunikationszonen“ hergerichteten Plätze mit Blumenkübeln aus Beton und schmiedeeisernem Brunnen sind für Dosenbier trinkende Sozialfälle und ihre Hunde reserviert. Der Theaterplatz bildet das Kopfende des Karrees. Die in den 70er-Jahren gebaute Anlage verbindet das schon in den ersten Nachkriegsjahren wieder aufgebaute Stadttheater mit der Bibliothek und dem Seidenweberhaus. Das Gebäude mit dem schönen Namen ist ein Parkhaus, in dem sich ein multifunktionaler Veranstaltungsraum verbirgt. Bildung und Kultur für alle hieß es damals im SPD-regierten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Heute finden auf der windigen Pflasterfläche in Aufmarschgröße Wettbewerbe der Skateboardfahrer im kunstvollen Überspringen der Treppenstufen statt. Wer das Jump-and-Thrill-Alter überschritten hat, läuft mit eiligen Schritten durch das Zentrum der Stadt wie Samt und Seide.

Vor zweihundert Jahren, zu den Hochzeiten der Seidenproduktion, da war Krefeld noch aus edlem Zwirn gesponnen: „Krefeld gewährt einen völlig anderen Anblick als die meisten Städte Deutschlands. Durchgehendst sieht man großen Wohlstand herrschen und bemerkt im ersten Augenblick, dass die Quelle dieses Wohlstandes Arbeitsamkeit und Kunstfleiß ist. Die Häuser sind sehr gut, sehr egal, nur in holländischem Geschmack gebaut, doch weniger mit Zierraten überladen und überhaupt nicht so kleinlich. Die Straßen sind meistens schnurgerade und sehr regelmäßig, im höchsten Grade reinlich und gegen deutsche Städte gehalten vortrefflich gepflastert.“

Der Autor dieses Reiseberichts war Wilhelm von Humboldt. Er logierte 1789 im Stadtpalais des Seidenbarons von der Leyen, dem eigentlichen Stadtgründer, der zu Zeiten Humboldts die Hälfte der Krefelder Männer und Frauen in seinen Manufakturen beschäftigte. Seide aus Krefeld trugen die Fürsten im Westfälischen genauso wie die preußischen Könige in Berlin. Das Rathaus am Von-der-Leyen-Platz gehörte zum Besitz des Seidenbarons. In den holzvertäfelten Empfangsräumen finden heute die Ratssitzungen statt.

So reich und wohl auch einflussreich wie die von der Leyens zu ihrer Zeit kann man heute mit der Seidenverarbeitung nicht mehr werden. Fast vernachlässigbare zwei Prozent aller in Krefeld Beschäftigten arbeiten in der Textilindustrie. Die meisten davon nähen und verpacken Krawatten, denn noch immer kommen acht von zehn der in Deutschland hergestellten Binder aus der Stadt am Niederrhein. Die stammen aus Familienbetrieben wie der Pfau-Krawattenfabrik Jochum.

Nicht ganz so prachtvoll wie das von-der-Leyensche Rathaus ist der Firmensitz der Krawattenfabrik. Hinter der einfachen Haustür eines unscheinbaren Wohnhauses in der Innenstadt verbirgt sich die Produktionshalle. Hier werden Krawatten für den Weltmarkt konfektioniert. Zwischen Büro und Nähtischen stehen ausgemusterte, ehemals moderne Ledersessel, in denen Katharina Gerlach als Kind die Samstagnachmittage vor dem Fernseher verbrachte. Mittlerweile leitet sie als Juniorchefin in vierter Generation das Familienunternehmen. Die Seide kommt aus Italien und wird hier von den 28 Mitarbeitern zu Bindern vernäht, die dann vornehmlich an den deutschen Einzelhandel gehen: „Da macht ja heute keiner ein Hehl raus. Es ist schwer in der Textilbranche, in der Krawattenbranche damit gemeinhin auch“, sagt die dynamische Juniorchefin und zukünftige Erbin einer Traditionsfirma, die sie „wieder mit Energie füllen will“.

Die Zeichen dafür stehen gut, auch wenn die Krawattiers naturgemäß bedauern, dass 40 Prozent aller Männer in Deutschland überhaupt keine Schlipse am Hals haben wollen. Seit zwei Jahren aber ziehen die Umsätze in der Branche wieder an. Krawatten zu knoten ist nicht mehr Bekenntnis, sondern gehört zur Individualisierung der Gesellschaft wie die Rollkragenpullover in die Chefetagen der Jung-Kreativen. Neue Krawattenfabriken werden deswegen in Krefeld nicht entstehen, und auch von den 25 Firmen, die von einst zweihundert noch übrig geblieben sind, wird sich nicht jede halten können. Doch Katharina Gerlach ist zuversichtlich, dass auch in Zukunft in Krefeld Pfau-Krawatten hergestellt werden.

Die Stadt unterstützt die lokale Krawattenindustrie mit dem Auftrag zur Produktion einer „Jahres-Krawatte“. Die sind meist zu bunt und zu breit, doch das ist eine Tradition in der Seidenstadt. Aber auch im Rathaus weiß man, dass Stoffe aus Krefeld heute nicht mehr gebunden werden müssen, sondern als technische Textilien in Flughäfen für Transportbänder und bei der Polizei für schusssichere Westen ihren Einsatzort finden. In der Nachfolge der Textilindustrie siedelten sich Chemie- und Stahlproduktion in Krefeld an. Die Bayerwerke in Uerdingen und die Stahlwerke von Thyssen sind die größten Arbeitgeber in der Stadt. Doch ein Slogan: „Krefeld – Eine Stadt wie Edelstahl und Aspirin“ lässt sich eben nur schwerlich verkaufen.

Jenseits der Gleise, die die Stadt zerschneiden, ist es auch mit der vortrefflichen Ordnung des innerstädtischen Karrees vorbei. Nördlich der Gleise liegen Pferderennbahn und Golfplatz, südlich davon die städtischen Krankenanstalten aus früheren und das Asylantenwohnheim aus neueren Zeiten. Die südliche Innenstadt ist ein Mischwohngebiet mit hohem Gewerbeanteil, das durch Gleisanlagen und Schnellstraßen geradezu eingezäunt ist. Links die düsteren Backsteinbauten der städtischen und rechts die der kirchlichen Krankenanstalten mit psychiatrischer Klinik. „Die Musik spielt hier in Krefeld zwischen Rheinstraße und Marktstraße“, führt der ehemalige Bürgermeister Bernd Scheelen aus. „Das ist der Bereich, der für die Krefelder als Einkaufszone interessant ist. In Richtung Süden wird es wesentlich problematischer. Deswegen richten wir auch große Anstrengungen darauf, den Süden aufzuwerten.“ Aufwertung bedeutet in Krefeld ein neuer Bahnhofsausgang in Richtung Süden und die Festlegung der südlichen Innenstadt als Sanierungsgebiet. Das beginnt gleich hinter dem Bahnhof.

Im neuen Wohnquartier wird ein Seniorenheim gebaut, und auf großen Tafeln wird schon jetzt mit „betreutem Wohnen für das dritte Lebensalter“ geworben. Die Kinder und Jugendlichen dürfen sich daneben in der Kultur-Fabrik Heeder tummeln. Hier hat das „Kinder- und Jugendtheaterzentrum Kresch“ sein Domizil. Und gegenüber der Seniorenwohnanlage werden Gebrauchtwaren ausgestellt. Genau in der Mitte von Autohaus und Seniorenheim: ein Springbrunnen. Wie ein Ufo wirkt da eine öffentliche Toilette, die in modernen Dienstleistungsfrischefarben zwischen Baugeräten und illegaler Müllentsorgung den neuen und modernen Südausgang des Hauptbahnhofes kennzeichnet. Hier im Süden der Innenstadt wird deutlich, dass die Strukturprobleme Krefelds trotz aller Orientierung an den linken Niederrhein denen der Nachbarstädte jenseits des Rheins, im Ruhrgebiet, ähnlich sind. Mit 14,4 Prozent liegt die Zahl der Arbeitslosen auf einem vergleichbaren Niveau wie in Duisburg oder Dorsten.

Doch der bittere Charme des Morbiden fehlt. Bürgerliche Häuser kennzeichnen auch heute noch das Stadtbild. Der Rheinische Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass die Industriellen neben der eigenen Gewinnmaximierung auch eine manchmal kleinere und manchmal größere Verantwortung für die Stadt gezeigt haben, in der sie ihre Profite erwirtschafteten. Eine Tradition, die in der Stadt wie Samt und Seide lebendig geblieben ist und ihr nicht nur Pferderennbahn und Golfclub eingebracht hat, sondern auch das Textilmuseum und die Museen für zeitgenössische Kunst Haus Lange und Haus Esters. Die beiden frühen Werke des Bauhausarchitekten Mies van der Rohe, die zwischen 1928 und 1930 für die beiden Textilindustriellen Lange und Esters errichtet wurden, dienen der Stadt seit 1954 als Museen.

1968 wurden die beiden Bauwerke von den Erben der Stadt geschenkt. Und ein wenig in dem Habitus des Wohltäters sieht sich wohl auch Carl-Wolfgang Schümann, wenn er über Textilien im Allgemeinen und die hochwertigen im Besonderen redet. „Man kann eben nicht einfach sagen: Die ganze Textilindustrie geht vor die Hunde, weil die da draußen immer schneller werden und sehr viel mehr Menschen sehr viel schlechter bezahlt arbeiten. Sondern viele wollen von gut bezahlten Facharbeitern gut sitzende Garderobe bekommen.“