Der Mädchenzug

Darf man Frauen in Uniform anschreien? Oder soll man Frauen in Uniform ignorieren? Wer Dienst an der Waffe tun will, muss eben Dienst an der Waffe aushalten ■ Aus Horb Wolfgang Bauer

„Da herrschte Totenstille, als ich das erste Mal in den Speisesaalmeiner Einheit gekommen bin. Ich war dort die erste Frau.“

Der Gewehrlauf zeigt auf Jenny Baum. Die Mündung tanzt vor ihrem linken Auge, mit zitternden Händen stemmt sie die Waffe, nun schon zum sechsten Mal. Immer noch kleben schwarze Flocken in den silbernen Windungen, wieder darf sie mit dem Putzen von vorn anfangen. „Oh je“, sagt sie. Mehr sagt sie nicht.

Die Hose am Knie zerfetzt, die Ellenbogen aufgeschürft. Jenny Baum, 19, zierlich. Noch vor kurzem arbeitete sie als Kinderpflegerin in einer Kleinstadt bei Köln. Jetzt sitzt Baum in einer Mannschaftsunterkunft der Horber Hohenberg-Kaserne, verschwitzt, k.o., das Gesicht rabenschwarz verschmiert, wie man es aus schlechten Kriegsfilmen kennt. „Ich werde mich daran gewöhnen“, murmelt sie. „Ich gewöhne mich an alles.“ Seit zwei Wochen hat die Westfälin einen neuen Job, ihren Traumjob: Soldatin.

Frauen wie sie haben die Bundeswehr in den vergangenen Jahren regelrecht überrumpelt. 4.330 Frauen stehen gegenwärtig auf der Soldliste, und immer mehr drängen in die Armee – ganz ohne Zutun derselben. Die Ärztinnen machten den Anfang, seit 1990 – aufgrund der vielen Bewerber – steht auch der Sanitätsdienst den Frauen offen. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vergangene Woche wird wohl in Deutschland die Armee als Männerbastion fallen. Ob damit auch die Wehrpflicht, wird zumindest diskutiert.

10. Sanitätsregiment, 10. Panzerdivision, II. Korps. Im Block 8, Stube 009, brennt Licht. Reichlich kalt draußen, Rauhreif auf den Fichtenzweigen. Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, der Wecker neben Jenny Baum hat längst geschrillt. „Kacke auch“, watschelt sie mit verschlafenen Augen Richtung Gemeinschaftsdusche. Unter der Dusche trällern bereits Kameradinnen. „Kacke auch“, murmelt Jenny wieder, denn Fröhlichkeit zu solcher Stunde schlägt nicht bei jeder an.

Die Nullnullneuner ist eine von zwei Frauenstuben und hat die Männer des Rekrutenzuges ausgetrickst. „Wir brauchen länger“, sagt Nina Brey. „Außerdem erschrecke ich immer über den Mann, der plötzlich in der Tür steht und schreit: Aufstehen!“ Also geht 009 jeden Morgen eine halbe Stunde früher raus, und die Frauen stehen in frisch gewichsten Stiefeln, wenn sich die Männer erst aus den Kojen rollen.

Der Mann, der morgens in der Tür steht, heißt Johannes Kränzle und ist Stabsunteroffizier. Von Frauen in der Bundeswehr hält er nicht allzu viel. „Die bringen Unruhe in die Truppe.“ Im Ernstfall sei das gefährlich, die Männer würden sich dann nicht so aufs Schießen konzentrieren. Kränzle – eine Stimme wie eine Sturmhaubitze, Oberarme wie Schwarzenegger und Haare wie ein Bürstenbinder. Kränzle ist ein Ausbilder, der Wert legt auf Menschlichkeit. Das sagt er oft. Er will die Rekruten nicht schinden, wie ihn sein Ausbilder geschunden hatte. Deshalb läßt er seinen Zug heute nur 40 Liegestütze und 70 Bauchrollen machen. Der anstrengende Start in einen noch anstrengenderen Tag. Kränzle: „Erst werden sie stöhnen, dann weinen, dann richtig fertig sein.“

Die Frauen von 009 mögen Kränzle – „ey, ehrlich“ – richtig gern. In 009 ist Soldat so um die 20 Jahre alt, kommt aus den verschiedensten Ecken Deutschlands und hat harte zivile Zeiten hinter sich. Jenny Baum war Pflegerin von misshandelten Kindern, die noch bei ihren Familien leben. „Sobald ich weg war, wusste ich, denen geht’s wieder schlecht.“ Sie hielt die Hilflosigkeit nicht länger aus, kündigte. Arzthelferin Barbara Mohr war Feuerwehrfrau im Nebenjob und hat schon so manchen Fabrikbau in Flammen gesehen. „Das ist fast wie Krieg.“ Friederike Strauch arbeitete als Krankenschwester. „Der Tod ist mir nichts Fremdes.“ Vier Jahre Bundeswehr stehen ihnen bevor, mindestens!, sagt Brey euphorisch, zwei Monate Grundausbildung und heute der zweite Tag auf dem Truppenübungsplatz, wo schlammschwarze Gräben auf blitzsaubere Rekruten warten. „Ein bisschen komisch“ findet das Jenny, als sie nach vier Kilometern Zickzack-Marsch durch die Felder vor dem Grabensystem steht und sich von nun an „gefechtsmäßig“ bewegen soll. So sieht also Selbstverteidigung aus, wohlgemerkt, um Kämpfen geht es hier nicht. Das Gewehr ist beim Kriechen immer im Weg, mal rammt die Flinte in den Boden, mal rammt sie die Frau. Ausbilder Kränzle läuft immer nebenher. Er jammert und klagt. „Die Mündung nicht in den Dreck!“ „Sichtkontakt halten, bedeutet nicht, dass Sie kuscheln sollen!“ Jenny zieht den Kopf ein, denn sie nimmt ihre Sache ernst. Sie macht viele Scherze, – „wann kriegen wir endlich die Russland-Karten?“ – ist, wenn es drauf ankommt, aber eine ehrgeizige Mustersoldatin. Dann liegt sie eine halbe Stunde auf arschkaltem Waldboden, sucht den Horizont nach Feindbewegungen ab, obwohl sie doch weiß, dass da kein Feind im albernen Busch ist. „Ich muss das üben.“

Während draußen die jungen Frauen mit Gewehren durch die Landschaft robben, klappern die Altgedienten in der Kaserne mit Kaffeetassen. Für Alexandra Nagel und Sandra Goll, seit über sechs Jahren dabei, mittlerweile Stabsunteroffiziere, ist die Bundeswehr ein fast schon abgeschlossenes Kapitel. Verlängern wollen sie nicht, sagen beide, verlängern wollen sie nur, wenn man sie zur kämpfenden Truppe ließe. Zu den Panzerfahrern oder den Fallschirmspringern. Das lässt man sie aber nicht. Denn kämpfen dürfen bisher laut Grundgesetz nur die Männer. Frauen sind schwächer, können vergewaltigt und misshandelt werden, bedürfen deshalb eines besonderen Schutzes. Und der heißt Etappe oder Rotes Kreuz. Ihre Waffen dürfen Sanitäterinnen nur gebrauchen, um sich zu verteidigen oder Verwundete herauszuschlagen. Jeder Schuss Richtung Feind verstößt gegen das Grundgesetz.

500 Männer, eine Frau.

Was das bedeutet, war Goll, Huttinger, Nagel nicht klar gewesen. „Da herrschte Totenstille, als ich das erste Mal in den Speisesaal meiner Einheit gekommen bin. Ich war dort die erste Frau“, erinnert sich Goll an die rauhe Zeit im bayerischen Gebirgsartilleriebatallion. Vorgesetzte diskutierten ernsthaft die Frage, ob man Frauen in Uniform anschreien dürfe, ihnen die Tür aufhalten müsse und den Umgangston der Mannschaftsdienstgrade zumuten könne. Rekrutin Goll lehnte das Essen im Offizierscasino ab und forderte einen Platz bei ihresgleichen. Ohne Protest akzeptierte sie dagegen eine andere Sonderbehandlung: Als sie während einer Reihenuntersuchung dem Standortarzt assistierte und Blutdruck maß, waren die Werte ungewöhnlich hoch. Der Arzt ließ sie daraufhin die Körpergröße messen, da sank der Blutdruck der Herren wieder.

Solche Geschichten sind lustig. Die Bundeswehr kennt aber auch ganz andere Geschichten.

„Viele Männer“, beginnt Goll zu erzählen, und Nagel und Huttinger nicken mit den Köpfen, „haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass wir genauso gut sind.“ Es gibt Männer, die sie ignorieren, Männer, die kleinste Fehler zur Staatsaffäre machen, Männer, die es ihnen offen ins Gesicht sagen: „Frauen gehören nicht in die Bundeswehr!“ Der Dienst an der Waffe will ausgehalten werden.

Vor ihrer Militärzeit sei sie, Stabsunteroffizier Goll, still und schüchtern gewesen. „Mitschülerinnen von damals erkennen mich heute nicht wieder.“ Mittlerweile ist sie nicht nur das Gehorchen, sondern auch das Befehlen gewöhnt. „Wenn du als Frau aus der Bundeswehr kommst, hast du ein Selbstbewusstsein, da träumt der liebe Herrgott davon.“

Sanitätssoldatin Barbara Mohr, 19, liegt in ihrer Schützenmulde, das Gewehr im Anschlag, und streicht mit dem Fadenkreuz über die wogende Wiesenlandschaft. Ausbilder Kränzle hat Feuerbefehl gegeben. Neben ihr rauchen die Mündungen der Kameraden und Kameradinnen, es knattert, Platzpatronenhülsen plattern davon. Mohr drückt den Abzug nicht. Obwohl die andere Ausbildungsgruppe, der angreifende Feind, nur noch wenige Meter entfernt ist. „Das war ein komisches Gefühl“, sagt Mohr später. „Auf echte Menschen draufzuhalten.“

Mohr ist die Ausnahme auf Stube 009. Sie möchte nicht kämpfen, sie will helfen. „Ich sehe den Feind nicht als Feind, sondern als Mensch.“

„Der Mädchenzug“ spötteln die Kameraden im ersten und zweiten Zug über die Männer des dritten Zuges. „Hey, Mädchen!“, rufen sie ihnen hinterher. „Unsere Männer sagen, sie müssen auf uns aufpassen. Die sind irgendwie stolz auf uns.“ Das findet Brey ganz schön rührend. „Man kriegt hier mehr Respekt entgegengebracht wie draußen.“ Blöde Anmache sei jedenfalls (noch) kein Thema.

Pappschilder an den Gemeinschaftsduschen, „Achtung, Frauenduschen!“, sollen die größten Gefahrenherde ausschalten. Leutnant Rainer Hämmerle, Chef des „Mädchenzuges“, beugt auch persönlich vor und führt Besprechungen mit Rekrutinnen nie unter vier Augen, sondern unter sechs. „Man kann nie wissen“, sagt er. „Nicht, dass mir eines Tages was unterstellt wird.“ Denn Hämmerle hat viel vor bei der Bundeswehr. Führungsakademie und Ähnliches.

Apropos Führungsakademie: Wie spricht man Frauen in Uniform an? „Männer!“, brüllt Hämmerle manchmal wütend in den Zug. Dann stutzt er, überlegt kurz, und brüllt in gleicher Lautstärke: „Trantüten!“ Auch Stube 009 meldet sich konventionell zum Appell. Brey: „Vier Mann beim Bettenbauen!“ Das nehme sie nicht persönlich, frau sei beim Bund halt Mann, keine Extrawürste, die gebe es auch nicht für Offiziere. Schließlich spreche man hier von Frau Hauptmann. „Ich lasse mich mit allem anreden“, erklärt Jenny Baum stoisch.

Abends, beim Schlussappell, nach viel Frieren und Schwitzen, ist die Anrede rauh: „Schleichen Sie nicht rum! Benehmen Sie sich wie ein Soldat! Aufrechter Gang! Kopf hoch!“ Zugführer Hämmerle ist sauer. Die Übung ist heute gründlich daneben gegangen.

Die Klagen des Ausbilders: Die Frauen haben es nicht geschafft, einen Verletzten auf einer provisorisch gebastelten Trage mehr als 50 Meter zu transportieren. Die Frauen haben viel zu früh aufgegeben, die Frauen – das Schlimmste – haben sich untereinander in die Haare bekommen. Hämmerle: „Die haben sich am Ende richtig angegiftet.“ Das darf und kann nicht sein. „Der Zusammenhalt der kleinen Kampfgemeinschaft war nicht ausreichend.“ Deshalb wird die Übung wiederholt. So einfach ist das. Auch Kränzle brummelt. „Extrem unfit, wenn sich das nicht bessert, sind die untauglich für die Bundeswehr.“

In der Heimat von Barbara Mohr rechnet man mit ihrer baldigen Wiederkehr. „In der Feuerwehr laufen Wetten, wann ich es hier schmeiße.“ Diesen Gefallen wird sie ihren alten Spritzenkameraden aber nicht tun. Sie wird die vier Jahre durchhalten. Den Männern will sie nichts beweisen, sagt sie, beweisen will sie es nur sich selbst. „Ich weiß, ich kann den Job gut machen.“ Sie schält sich aus der Uniform, löst ihren Zopf und stellt den Stubenwecker wieder auf 4.30 Uhr.

Am nächsten Tag steht Exerzieren auf dem Programm. „Gegenüber den Jungens bin ich da im Vorteil. Ich tanze Standard.“