■ Die Bundesregierung kapituliert vor den Forderungen der Atomwirtschaft und versteckt sich dabei hinter den Gutachtern
: Das Risiko wird konserviert

Setzte man aktuelle Sicherheitsanforderungen durch, lohnte sich kein Atommeiler

Wenn die rot-grüne Bundesregierung am morgigen Mittwoch ihre Verhandlungslinie mit der Atomwirtschaft festlegt, wird dies ein Dokument staatlicher Kapitulation vor den Interessen mächtiger Großkonzerne werden. Ein vollständiges Versagen der Demokratie, das der Spendenaffäre der CDU nicht nachsteht. Die für ein schnelles Abschalten aller Atomkraftwerke gewählte Bundesregierung möchte gegen den Willen der Atomwirtschaft in dieser Legislaturperiode kein einziges Atomkraftwerk vom Netz nehmen. Mit dieser „Drohkulisse“ geht die Bundesregierung in die Verhandlungen mit der Atomwirtschaft. Dabei ist grundsätzlich längst ausgehandelt, dass „im Konsens“ nur zwei oder drei unwirtschaftliche Atomkraftwerke kurzfristig stillgelegt werden sollen. Über diese für die Atomfirmen profitable Maßnahme sollen sich die Grünen und ihre WählerInnen freuen und dann großzügig darüber hinwegsehen, dass die meisten Atomkraftwerke, von unangenehmen staatlichen Auflagen praktisch unbehelligt, ihre vollständige wirtschaftliche Lebensdauer ausnutzen dürfen. Ein für die Atomwirtschaft optimiertes Auslaufprogramm über Jahrzehnte, das faktisch auch den Neubau von Atomkraftwerken in einigen Jahren nicht ausschließen kann, ist das absehbare Ergebnis rot-grüner Atompolitik.

Die Bundesregierung möchte den Atomkraftwerksbetreibern Laufzeitgarantien in der Größenordnung von 30 Jahren einräumen. Wie die Stilllegung des Atomkraftwerks Würgassen im Jahr 1995 zeigte, konnte ein Atomkraftwerk selbst unter Monopolbedingungen nach 23 Betriebsjahren wirtschaftlich untragbar werden, wenn teure Nachrüstungen anstanden. Zahllose Beispiele aus dem Ausland untermauern, dass die wirtschaftliche Lebensdauer von Atomkraftwerken im Regelfall weit unter 30 Jahren liegt. Mit dem zunehmenden Wettbewerbsdruck unter den Stromproduzenten ist eine Laufzeitgarantie von 30 Jahren aus Sicht der Betreiber völlig ausreichend, um einen maximalen Profit aus den Anlagen herauszuholen. Werden die Laufzeiten zudem flexibel vereinbart, könnten einzelne Anlagen sogar weit länger als 30 Jahre am Netz bleiben. Eine Befristung der Reaktorlaufzeiten auf 30 Jahre wäre daher ein Freibrief des Staats für eine maximale wirtschaftliche Verwertung der Atomkraftwerke.

Dennoch wird die Regierung die „Befristung“ als Argument heranziehen, um der Atomwirtschaft „im Gegenzug“ zahlreiche weitere Zugeständnisse zu machen. Es geht ihr und den Konzernen in der Substanz darum, von staatlicher Seite für die rund 30 Betriebsjahre einen möglichst reibungslosen und vor allem auch preiswerten Atomkraftwerksbetrieb zu gewährleisten. Bundeswirtschaftsminister Müller, der ehemalige Manager des Atomkraftwerksbetreibers Veba, handelte im Auftrag von Bundeskanzler Schröder bereits vor Monaten mit den Atomkonzernen das mögliche „Kleingedruckte“ einer Vereinbarung aus. Es wäre naiv, anzunehmen, diese Verabredungen seien vom Tisch.

So soll es allen fachlichen Erkenntnissen zum Trotz nicht zu verschärften sicherheitstechnischen Anforderungen kommen. Denn dies könnte sehr viele und sehr teure Nachrüstungen erforderlich machen und damit den wirtschaftlichen Betrieb der atomaren Altanlagen frühzeitig in Frage stellen. Nach den Vorstellungen von Wirtschaftsminister Müller und seinen Ex-Arbeitgebern soll der Staat auch zusagen, dass in den nächsten 20 Jahren die Atomenergie steuerlich nicht stärker belastet wird. Dies ist ein erneuter Versuch der (Atom-)Wirtschaft, demokratisch legitimiertes staatliches Handeln in der Zukunft durch vertragliche Festlegungen von heute einzuschränken.

Die rot-grüne Bundesregierung möchte den im Atommüll erstickenden Betreibern zudem aus der Entsorgungsklemme helfen. Kurzfristig ist die Bundesregierung bereit, so genannte Transportbereitstellungslager zu genehmigen. Mittelfristig will sie neue Zwischenlager direkt neben den Reaktoren genehmigen, damit die Atomkraftwerke ihren Atommüll zügig loswerden und weiterbetrieben werden können.

Mit den neuen Zwischenlagern soll auch in juristischer Hinsicht eine der Hauptsorgen der Atomwirtschaft behoben werden. Denn das geltende Atomgesetz verlangt zwingend eine geregelte Entsorgung des Atommülls als Voraussetzung für den Kraftwerksbetrieb: entweder durch eine „schadlose Verwertung“ radioaktiver Abfälle oder durch eine direkte Endlagerung. Da aber die Wiederaufarbeitung keine schadlose Verwertung ist, sondern die Menge des Atommülls noch vergrößert, und ein atomares Endlager weder vorhanden noch in Sicht ist, ist die Entsorgung de facto ungelöst.

Eine harte Überprüfung der Entsorgungsnachweise käme daher vermutlich zu dem Ergebnis, dass der Betrieb aller 19 Atomkraftwerke illegal ist. Der Weg wäre frei für einen Entzug der Betriebsgenehmigungen. Doch anstatt dies zu tun, möchte Rot-Grün der Atomwirtschaft rechtsverbindlich zusagen, dass die jahrzehntelange Zwischenlagerung als Entsorgungsnachweis genügt.

Dieser Atomkonsens ist politisch gewollt. Bundeskanzler Schröder, der jahrelang im Aufsichtsrat des Atomkraftwerksbetreibers PreussenElektra saß, strebt seit vielen Jahren eine derartige Übereinkunft an. Der Öffentlichkeit und selbst den eigenen Bundestagsabgeordneten wird diese Politik für die Konzerne erfolgreich mit juristischen Sachzwängen verkauft. Es erstaunt, wie dicht die juristischen Bewertungen den politischen Interessen der jeweiligen Auftraggeber folgen. Der Gutachter von Umweltminister Trittin kam zu dem Ergebnis, dass eine Befristung auf etwa 25 Betriebsjahre mit der Verfassung vereinbar wäre. Das Gutachten entsprach damit exakt den politischen Vorstellungen von Trittin. Derselbe Gutachter hielt noch vor wenigen Jahren eine wesentlich kürzere Befristung für verfassungsfest. Juristen des Bundesumweltministeriums räumen ein, dass nach einem Atomunfall in Deutschland ein Sofortausstieg selbstverständlich mit der Verfassung vereinbar wäre.

Die wirtschaftliche Lebensdauer von Atomkraftwerken liegt unter 30 Jahren

Die Juristerei ist keine besonders exakte Disziplin, sondern in höchstem Maße gesellschaftlichen Prozessen unterworfen. Doch diese Bundesregierung hat überhaupt keine Anstalten gemacht, der radikalen Rechtsauffassung der Atomwirtschaft eine andere gegenüberzustellen und für diese zu streiten. Beispielsweise spielte das Grundrecht auf Leben und Gesundheit nach Artikel 2 bei den juristischen Abwägungen der vergangenen Monate faktisch keine Rolle. Der angestrebte Konsens mit der Atomwirtschaft konserviert das Risiko einer Atomkatastrophe in Mitteleuropa auf Jahrzehnte.

Henrik Paulitz