Ricardo Lagos Presidente

Chiles linke Mitte feiert den Wahlsieg des Sozialisten Lagos, derrechte Kandidat gibt sich als fairer Verlierer ■ Von Ingo Malcher

Der Sozialist Ricardo Lagos ist neuer Präsident Chiles. Mit einem Vorsprung von fast drei Prozent konnte er sich am Sonntag in der zweiten Runde gegen den Rechtsausleger Joaquín Lavín durchsetzen. Das Ergebnis ist relativ deutlich; Meinungsforscher und Kommentatoren hatten ursprünglich ein extrem knappes Ergebnis erwartet.

Lagos ist mit seinem gestrigen Wahlsieg der erste sozialistische Präsident Chiles, seit Salvador Allende 1973 von Augusto Pinochet gewaltsam aus dem Amt geputscht wurde. Schon kurz vor acht Uhr abends brachen Lagos’ Anhänger in Jubel aus: Nachdem die Hälfte aller Stimmen ausgezählt war, zeigte sich deutlich, dass Lagos das Rennen machen würde. Bereits eine halbe Stunde später stand alles fest: 51,3 Prozent für Lagos, 48,6 für Lavín.

Die edlen Hallen des Luxushotels Carrera, in dem Lagos sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, füllten sich mit den Fahnen der sozialistischen Partei. Unter dem Kristallleuchter in der Eingangshalle wurde in Sprechchören immer lauter skandiert: „Lagos Presidente!“ Mit fortschreitender Stunde zogen immer mehr Parteigänger der Concertación, der in Chile regierenden großen Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten, mit rotweißblauen Nationalfahnen auf die Straße, um den Sieg zu feiern.

Auf dem Platz der Verfassung im Zentrum Santiagos dankte Lagos vor mehreren tausend Anhängern seinen Wählern. „Ich bin der Präsident aller Chilenen“, rief er versöhnlich in die laue Sommernacht. Er versprach, eine „gerechte Nation“ zu schaffen, in der „alle die gleichen Möglichkeiten“ haben sollen. Das Chile des 21. Jahrhunderts soll ein solidarisches Land ohne Armut werden.

Lagos deutete auch an, was im ganzen Wahlkampf ein Tabu war: „Eine der Lehren des 20. Jahrhunderts ist, dass die Menschenrechte verteidigt werden müssen“, meinte er in Anspielung auf Pinochet. „Das 20. Jahrhundert geht und hinterlässt Verletzungen, die unter uns Chilenen noch nicht geheilt sind“, sagte er und wurde noch im selben Moment von Sprechchören unterbrochen. „Gerichtsverfahren für Pinochet! Gerichtsverfahren für Pinochet!“, forderten seine Anhänger lautstark. Nach kurzem Schweigen antwortet Lagos: „Die Verfahren sind Sache der Gerichte, ihre Entscheidungen müssen respektiert werden.“ Danach ging es weiter, als wäre nichts gewesen.

Der in London festsitzende Ex-Diktator Augusto Pinochet hat im Wahlkampf keine Rolle gespielt. Unruhig wurde es nur, als wenige Tage vor der Wahl Ärzte in London Pinochet attestiert hatten, er würde eine Auslieferung an Spanien nicht überstehen. Selbst der ehemalige Funktionär des Pinochet-Regimes, Joaquín Lavín, redete plötzlich davon, dass Pinochet in Chile der Prozess gemacht werden könne.

Lavín war der Verlierer des Abends. Trotz seiner Schlappe hörte er nicht ein einziges Mal auf zu grinsen. Lavín ging nicht auf Konfrontation und bewies, dass er auch in der Stunde der Niederlage ein richtiger Gentleman ist. Er eilte zum Hotel Carrera, um Lagos als Zeichen der Hochachtung einmal fest zu drücken. Später erkannte er die Niederlage an, jedoch nicht, ohne seinen eigenen Stil zu loben: „Ich habe auf Attakken nicht mit Attacken geantwortet. Ich repräsentiere einen neuen Politikstil in Chile.“ Lavín nahm eines seiner sieben Kinder auf den Arm und sagte: „Gott weiß, warum er die Dinge macht.“ Und Lavín versprach, nicht lockerzulassen. Denn eines Tages werde sein neuer Politikstil in Chile „die Mehrheit bekommen“.

Lagos wird sich künftig an den Erfolgen seiner Wirtschaftspolitik messen lassen müssen. Und da sind die Aussichten nicht rosig, denn Lagos übernimmt eine angeschlagene Wirtschaft. In Chile wurde der Neoliberalismus während der Diktatur (1973–1990) unter Laborbedingungen durchgesetzt. Doch heute steckt das Land des lateinamerikanischen Wirtschaftswunders in der Krise. Während Chile 1995 noch mit Wachstumsraten um die 10 Prozent aufwarten konnte, schrumpfte die Wirtschaft 1999 um fast 4 Prozent. Die Arbeitslosenrate stieg in gleichen Zeitraum von 7,4 auf 11,5 Prozent, wobei der informelle Sektor ständig zunahm.

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