Nett sein ■ Von Joachim Schulz

Nett sein? Zu unverbesserlichen Schwätzern, Wichtigtuern und bedeutungslosen Wichteln? Aus purer Höflichkeit? Nichts ist verhängnisvoller! Stattdessen gilt es, solchen Figuren stets unverhohlen zu sagen, was man von ihnen hält, oder – noch besser – ganz aus dem Wege zu gehen.

„Nein! Nein! Nein!“, rufe ich deshalb, als die Liebste mir eröffnet, dass ihre neue Kollegin uns zum Essen eingeladen habe. Vor wenigen Wochen ist die neue Kollegin mit ihrem Ehegespons in unsere Stadt gezogen. Seitdem wird peu à peu die ganze Belegschaft zum abendlichen Diner gebeten, und es hat sich längst herumgesprochen, dass das Gastgeberpärchen sich in stundenlangen Monologen über diverse Wunderkuren wie Chakrenmassage und Aromatherapie zu ergehen pflegt und nicht mal draußen auf dem Balkon geraucht werden darf. „Das ist gefährlich!“, beschwöre ich die Liebste. „Die kennen niemanden hier! Die suchen Freunde!“ Doch Widerstand ist zwecklos. „Pass auf: Entweder, du begleitest mich und beträgst dich den ganzen Abend wie ein wohlerzogenes Menschenkind, oder du siehst dich unter den Brücken in der Umgebung nach einem neuen Schlafzimmer um“, erwidert sie kühl, und wieder einmal hadere ich damit, keinen anständigen Beruf gelernt zu haben und deshalb leider keinen Beitrag zur Miete unserer Wohnung leisten zu können.

So sitze ich wenige Tage später artig vor einem Tofu-Ragout und lausche gebannt dem Kolleginnengatten, der mir schildert, wie er sich in nicht einmal tausend Jahren reinkarnationsmäßig vom Wattwurm zum Homo sapiens hochgearbeitet habe.

Nur einmal, während eines Referats über die Gesundheitsschädlichkeit alkoholischer Getränke, unterläuft mir ein Schnitzer, indem ich „vor allem für Wattwürmer“ murmele. Unter anderem aber, weil die Liebste mir mit einem schnellen Tritt vors Schienbein sofortiges Innehalten gebietet, bleibt auch dieser kleine Lapsus folgenlos.

Überhaupt nicht folgenlos hingegen bleibt unser braves Betragen. Schon wenige Tage später wird uns ein sandsteinartiger Vollkornkuchen („Probiert den doch mal!“) vorbeigebracht, dann folgen („Wie war denn der Kuchen?“) Telefonanrufe, und schließlich tauchen der Ex-Wurm und seine Gefährtin sogar in der Gastwirtschaft auf, in welcher die Liebste und ich uns nach vollbrachtem Tagwerk gerne einen alkoholischen Schlummertrunk zurüsten. „Vielleicht“, sage ich, als wir auf dem Nachhauseweg eine Brücke passieren, „denke ich doch noch mal über die Schlafzimmerfrage nach.“

Zum Glück aber machen die beiden Nervensägen am darauffolgenden Sonntag einen fatalen Fehler, als sie sich spontan entschließen, uns gegen zehn Uhr zu einem Morgenspaziergang abzuholen. Kennten sie uns, dann wüssten sie, dass wir um diese Zeit noch unter unseren Daunendecken zu liegen pflegen und jede Störung als Kapitalverbrechen betrachten. So aber klingeln die beiden Sturm, bis die Liebste furiengleich zur Wohnungstür stürzt und ihnen mit wenigen Kraftausdrücken deutlich macht, dass sie uns bitte schön in Zukunft mit staubigen Kuchen und Zufallsbegegnungen verschonen mögen. Seitdem haben wir wieder unsere Ruhe.