M. oder: Kneipen sind auch nur Menschen

Wahre Lokale (3): Die Bierstube an und für sich

Als Jugendlichkeit noch mein Beruf war, schien es geboten, in ambitionierten Etablissements neben böse blickenden Kellnern herumzusitzen. An den Wänden hatte ein Freund des Besitzers pelzbeklebte Avantgarde-Fotos im Stile von Man Rays Großgroßneffe plaziert, über dem Eingang draußen formten schräge Leuchtlettern „Schwanengold“, „Grotesk“ oder „Sodom“. Man schaute abweisend und trank „zwei Kristall“ mit Zitrone mit Geduld. Das war Kanon.

Ging ich unbedacht mal in die Bierstube um die Ecke, wurde ich mit Kontaktverbot bestraft. Ich traf dort M. Leider. Jetzt bin ich arbeitslos und suche nur noch solch nichtige Kneipen auf. Schuld daran ist nur er, und schuld ist er, dass ich mich an kaum eines dieser Lokale erinnere. Unschwer nur an M. darin.

Morgens ist er wie alle anderen, abends aber geht er zwischen die Butzenscheiben, an die kalten Aschenbecher, über die befleckten Tischplatten, alternierend in die „Domklause“, zum „Gleis 23“ oder in den „Blauen Affen“ – „ist letztlich egal“. Mitkommen dagegen selbstverständlich. Man nimmt schnell einen Tisch, wirft die Jacken weg und ordert. ’N Bier. Wie das Leben so sei?

Der Wirt ist ausladend, schichtet Schnitzel auf der Theke und kann Pilsgläser zwischen seinen Fingern verbergen. Er hat bald Sympathie für uns und die unsrige. Es sei das prompte Beibringen des Bieres ein Wunderbares an der Welt, führt M. aus. Die zur Demonstration herbeigewunkene „lokale Spezialität“ schiebt er sich schnell zwischen die Zähne. Er richtet seine Glieder, der Rücken rundet sich, unser beider Blicke werden brav, alles ist Entspannung, Ruhe, Aufruhr.

Ein Bekannter aus der Jugendzeit, der auf ein Weizen „herüberschauen“ will, wird begrüßt und gleich wieder verabschiedet. Er kenne ihn nur flüchtig, so M. sardonisch. Leute wie der seien eh „überbewertet“. Und überschätzten die eigene Lebenseinrichtung aufs Dümmste. Ein Bier wäre übrigens auch noch recht. Das Wohlsein sei schließlich kein Möbel. Er fixiert eine Kaugummiskulptur auf dem Tisch. Bierpappen stappeln sich ellbogenhoch, es bimmelt eine Mikrowelle. Eine Frau an der Theke derangiert sich mit einer Schaumkrone ihre Frisur. Würde im Alter, würdigt M. Kein Bier wirft sie um. Könnwirauchnoch’n Kölsch?

Auch er neige vermehrt zur Gelassenheit, das sei: Genauigkeit. Eine Hand wischt den Beschlag vom Glas, die andere kreist um seine Gedanken und Ohren. Man müsse wissen, was geht. Hegel oder Henkel, das sei keine Frage mehr für ihn. Er rückt mir ein neues Glas zurecht. Eben. Von den Wänden grüßt der Wirt, der Hirsch, der Karnevalsprinz. Nippes thront im Deckenleuchter. Ein rotrasierter Stammgast stürzt schmerzendes Schrittes an uns vorbei und lässt eine schmierige Fahne „Sumatra Rain“ zurück. Solche Typen, ich huste, M. schluckt derweil tief, könne man „natürlich auch vergessen“. Würde er auch gleich, mach-noch-zwei. Wir zechen ohne Zaudern, denn in den Trinkpausen schwappt Musik ins Glas.

M. ordert jetzt Deftiges. Denn darauf passt Flüssiges. Mit frittenfetten Fingern winkt er einen in Biker-Hosen gezwängten Schmalhans heran, der vier Gebinde mitbringt. Es sei durstig hier, vielmehr er, führt der sich ein, und nachdem ich meine Schläfen kurz an den Klokacheln gekühlt habe, finde ich ihn mit M. beim Thema Kommunismus und Kommunikationsforschung. Drei Runden später lehnt M. sich zurück: Es sei alles letztlich nicht zu klären, müsse aber weiterhin geklärt werden. In meinem Bierglas geht die Sonne unter. In meinen Adern pocht Betäubung. Nichts zu ändern daran, wiegelt M. ab. Der Radler nickt und bekommt warme Worte.

Schon immer habe er gewusst, teilt M. mir mit, dass DER dort ein Guter sei, überhaut und eben „trotz der beschissenen Hosen“. Sein Finger kreiselt um unsere Köpfe, kratzt dann sanft an des Radlers Oberarm. Neues Bier? Für alle? Es geht über den Tisch. Die Kneipe gibt’s hier. Und wenn’s sie nicht gibt? Gibt’s M.

Den Kopf auf der Kante, sucht er unter dem Tisch nach Abhilfe. Er findet sie und reicht mir kleine, sanft klirrende Kühle. Was mir nun den Rest, gibt ihm letzten Schwung. Der neue Wim Wenders, schwadroniert er, sei „paradigmatisch“, mein vorletzter Sinn fällt aus, „und staunenswert“, nun höre ich zunehmend schwer, ja „schlecht“. Tatsächlich ruft der Schnitzelwirt beharrlich „Jungs-is-Schluss“ dazwischen, ich sauge letzte Sätze über Schopenhauer und Santana aus meinem Hirn, M. randaliert charmant. Der Mann, der um die Tischbeine wischt, ist „Nazi“. M. gräbt Scheine aus einem schwarzen Lederbeutel heraus. Ich schleudere die Tür von mir, der Kollege redet aus der Ferne, man sollte mal wieder, eins meiner Knie bricht ein, ich halte den Mund.

Strikt geradeaus läuft M. nach Haus. Autos säumen seinen Weg. Noch einmal blick’ ich hoch und versuche mir den Namen der Kneipe einzuprägen, wo ich meine, äh, Dings hab’ liegen lassen. Und hmpf. Morgens erwache ich als ein anderer. Ich fühle mich wie wenige. Alle. Thomas Roth