Der einsame Übervater

Helmut Kohl wird nicht den Lieblingsbeschäftigungen der Elder Statesmen nachgehen können und Memoiren schreiben sowie hoch dotierte Vorträge halten. Er hat sich selbst demontiert

Jetzt werden die Daumenschrauben angesetzt. Der Ehrenvorsitzende der CDU soll sein Amt ruhen lassen, bis er sich entschließt, mit der Preisgabe der Spendernamen auf die „Anderkonten“ seinen Beitrag zur „rückhaltlosen Aufklärung“ zu leisten. Vorbei sind die Zeiten der Girlandensprache, wo jede noch so dringliche Aufforderung an Kohl, sein Schweigen zu brechen, eingerahmt war von Bildern seiner historischen Größe. Jetzt heißt es aus dem Mund seines einstigen Lieblingsgehilfen Wolfgang Schäuble ebenso kurz wie brutal, das Ultimatum sei notwendig geworden nach einer ergebnislosen Rücksprache mit dem Ehrenvorsitzenden am gestrigen Morgen.

Entweder reden oder gehen. Eine Alternative, die eigentlich keine ist. Denn wie Kohl sich auch entscheiden wird, um seine Ehre als Politiker ist es geschehen. Weigert er sich weiter, so demonstriert er nur, dass er private über öffentliche Verpflichtungen stellt. Und kommt er der Aufforderung endlich nach, so wird die Folge die Offenlegung seiner politisch unehrenhaften Verbindungen mit dem Milieu jener Spender sein, die sich mit ein paar Brosamen politischen Einfluss sichern. Und kein Gerald Ford wird bereitstehen, ein Generalpardon für ihn auszusprechen, wie es im Fall von Richard Nixon geschehen ist.

So wird es Helmut Kohl nicht vergönnt sein, den Lieblingsbeschäftigungen der Elder Statesmen nachzugehen: Memoiren, hochdotierte Vorträge, Sotissen zur Unfähigkeit der Nachfolger, Pflege des Ruhms wie des Grolls. Was vor den Kameras des deutschen Fernsehens begann, wird seine Fortsetzung im Gerichtssaal finden. Und deshalb ist es auch ganz vergeblich, wenn die um Schadensbegrenzung bemühte Schäuble-Crew einen säuberlichen Strich ziehen will zwischen der „patriarchalischen“ Führungsfigur von gestern und den Lichtgestalten der neuen CDU-Führung von heute. Sie wird den Generationswechsel zu Koch & Wulff nicht als Prozess der Selbstreinigung verkaufen können. Denn wenn Kohl auch zu seinen Geldgebern schweigen sollte, über seine verräterischen ehemaligen Mitstreiter wird er reden. „Mal sehen, wer noch übrig bleibt“ – das ist bei Kohl eine Kriegserklärung.

Wie kein anderer Politprofi war Kohl bewandert gewesen in der Kunst der Menschen- und Apparatbeherrschung. Er war der Meister des Telefons, wie Kurt Biedenkopf, ein Opfer seiner Ungnade, neidlos anerkannte. In geradezu realsozialistischer Manier promovierte er Kader, erwies Gefälligkeiten, verschaffte Jobs, perfektionierte das Nachrichtensystem. Er beherrschte das Timing, schätzte die Kräfteverhältnisse ein – und schlug im rechten Moment zu. Heiner Geißler, der Einzige, der es je gewagt hat, konsequent gegen den Stachel Kohls zu löcken, bekam diese Fähigkeiten seines Chefs am eigenen Leib zu spüren. So entstand das „System Kohl“, dem eigentlich alle Kennzeichen eines Systems, also vor allem alle Regelhaftigkeit, fehlte. Dieses „System“ ließ die Partei zu Kohls Privatsache degenerieren.

Jetzt ist der allgemeine Ruf nach einer Parteireform an Haupt und Gliedern auch zum Programm des Parteipräsidiums avanciert. Von neuen Strukturen ist die Rede. Dabei wäre erst einmal zu konstatieren, dass Kohl Zeit seiner Herrschaft die Partei im Zustand der Strukturlosigkeit gehalten hat. Er war stets ein Feind klarer fachlicher Verantwortungen gewesen, vermied die sorgfältige Abgrenzung der Kompetenzen, praktizierte einen amorphen Führungsstil. Wie er auch geschworener Gegner programmatischer Prinzipien war. „Wichtig ist, was hinten rauskommt.“ Dieser der Analsphäre entlehnte Satz bezeichnete nicht in erster Linie das politische Kriterium der Wirksamkeit, sondern eine allgemeine Maxime politischen Handelns. Eigentlich identifizierte er privates Wohlergehen mit dem, was Hannah Arendt einst öffentliches Glück genannt hat. Kohl hat nie verstanden, dass sich der Privatmensch, was Pflichten wie Aspirationen anbelangt, vom Politiker unterscheiden muss. Für ihn war, wie Patrick Bahners es in einem gedankenreichen Esay formuliert hat, alles Private politisch – aber gänzlich anders, als es sich die 68-er hatten träumen lassen. Dieser Unio mystica des Privaten und des Poltischen folgend, nahm Kohl auch selbstverständlich Spenden entgegen. So wie er heute meint, ein Ehrenwort gegenüber den Spendern sei ein politisch verbindlicher öffentlicher Akt. Und wenn er sich am Kaviar aus dem Hause Flick labte, so kam dies auch seiner Partei zugute.

18 Monate lang faszinierte dieser konturenlose Pragmatiker Freund und Feind durch die beispielslose Tatkraft, mit der er das „window of opportunity“ für die deutsche Einheit erkannte und diese Einheit, alle Hindernisse niederwalzend, verwirklichte. Aber da dieser Vereinigung der beiden deutschen Staaten jeder Funke fehlte, der über den alten Zustand der westdeutschen Verhältnisse hinausgeleuchtet hätte, blieb sie für die Gesamtpartei CDU ohne Inspiration und ohne Folgen – vom Sachsen Biedenkopfs abgesehen. Das Gleiche gilt für die einzige politische Vision, die Kohl lebenslang begleitet hat: die europäische Union. Die Post-Kohl-Partei wird aus ihr kein Lebenselexier ziehen können. Noch beten die Vertreter der protestantisch-nationalen Rechten, die Wirtschaftsliberalen, die süddeutschen Partikularisten und die letzten Mohikaner der christlichen Sozialethik gemeinsam ihr Euro-Credo herunter. Aber wie belastbar ist dieses Post-Kohl Konstrukt? Kommt es wie in Italien oder nur wie in Österreich? Oder noch schlimmer. Kohl, der Beleidigte, kann warten – und zusehen. Es ist nicht mehr seine Sache. Christian Semler