Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen (4): Das „System Kohl“oder: Wie Machtstrukturen in den Parteien wirklich entstehen
: Demokratie ist zu grausam

Wer die CDU verstehen will, der muss nur an seine eigenen Sportstunden denken

Warum konnte sich Helmut Kohl so lange halten? Warum hat ihn die CDU-Spitze nicht längst entmachtet? Und vor allem: Wer wird die CDU auf Dauer führen? Wer die Partei, wer die Position Kohls, ja wer die Machtstrukturen in den Parteien verstehen will, der muss nur an seine eigenen Sportstunden zurückdenken. Sie erklären vieles, wenn nicht alles im weiten Leben.

Wie qualvoll waren die Mannschaftsspiele. Die beiden Besten stellten die gegnerischen Teamführer und durften wählen, wer jeweils zu ihnen gehört. Erst wurden die Zweitbesten, dann die Drittbesten, Viertbesten, Fünftbesten ... ausgesucht. Irgendwann kippte die Reihenfolge ins Umgekehrte: ... die Drittschlechtesten, die Zweitschlechtesten, die Schlechtesten. Alle sahen es, viele fürchteten es, manche mussten es erleben: das definitive Ende zu sein.

Inzwischen ist diese Art des Sportunterrichts in einigen Bundesländern verboten. Mannschaftsspiele ja, aber nicht als Selektion. Nicht als Auslese der Besten. Das ist zu grausam und demotivierend für alle, die schlechter oder schlecht sind. Was sich da zeigt: Demokratie ist grausam. Nicht für jene, die wählen. Aber für alle, die sich zur Wahl stellen. Sie gehen ein existenzielles Risiko ein. Nur ein Kandidat kommt durch. Alle anderen erleben sich als abgelehnt, als Versager. Sie haben ein zu großes Ziel angepeilt, indem sie von sich selbst glaubten und andere glauben machten, sie hätten eine Mehrheit hinter sich: Die Betrachter finden es lächerlich; für den Betroffenen ist es peinlich. Niederlagen schmerzen. Und zwar höllisch. Also werden sie vermieden, alles andere wäre nicht menschlich: im Sportunterricht – und in den Parteien.

Verfassungsrechtlich ist zwar bestimmt, dass in den Parteien die Demokratie walten soll, aber die Realität sieht meist anders aus. Ein amtliches Beispiel: 1991 verstieß in Hamburg eine relativ unbedeutende Oppositionspartei eklatant gegen den Grundsatz der parteiinternen Demokratie – und zwar die CDU. Deren Kandidaten waren gar nicht einzeln von ihrer Partei gewählt worden, sondern gleich als Komplettliste im Zehnerpack. Und diese Hamburger Einheitsliste der CDU war wiederum auf dem legendären Sofa des Parteivorsitzenden ausgekungelt worden. Zustände wie in der DDR. Jedenfalls war das Ergebnis des Eklats, dass 1993 in der Hansestadt erneut gewählt werden musste. Die CDU stürzte von 35 auf 25 Prozent ab.

Natürlich haben sich damals alle bestens amüsiert, die nicht entsetzte Anhänger der CDU waren. Aber bei aller Schadenfreude: Mit ihrer Einheitsliste, ausklamüsert zwischen Sofakissen, hat die Hamburger CDU nur versucht, ein Strukturproblem der Demokratie zu lösen. Wenn auch dreist und plump. Doch das Strukturproblem bleibt, betrifft auch die anderen Parteien und ist aus der Sportstunde bekannt: Wie, um Gottes Willen, kann man sich zur Wahl stellen – so verlangt es die Demokratie nun mal –, ohne schmachvoll zu scheitern? Denn das Ego ist unerbittlich: Es will nicht nackt dastehen, verletzt, beschämt. Also ist ein Kunststück zu vollbringen: eine echte „Quadratur des Kreises“. Eigentlich bleiben nur zwei Möglichkeiten, beide waren oder sind in den bundesdeutschen Parteien verwirklicht: die Flügel- oder die Führerpartei.

Flügelparteien entstehen, wenn auf Parteitagen überhaupt gewählt wird – und nicht nur zum Schein. Aber wenn es schon um eine echte Wahl geht, dann sollten wenigstens die Chancen für den einzelnen Kandidaten möglichst berechenbar sein. Die Lösung ist mathematisch eindeutig. Am übersichtlichsten ist die Situation für alle, wenn es nicht mehr als zwei Anwärter pro Posten gibt. Schon ein dritter Aspirant chaotisiert das Verfahren. Um am Ende aber wirklich nur zwei Kandidaten pro Amt oder Mandat zu haben, ist eine organisatorische Meisterleistung nötig. Sie erfordert langjähriges, langwieriges Fördern, Kungeln und Mobben. Dafür braucht man Flügel. Jede Partei hat sie – mal stark, mal schwach. Das Bild der Flügel drückt es plastisch aus: Wie bei den Vögeln gibt es davon immer nur genau zwei. Nicht drei, fünf oder zwanzig. Nein. Zwei. Bei allen Parteien heißen sie mehr oder minder durchgängig „rechts“ und „links“.

Die Flügel der Parteien haben irritierende Eigenschaften. Ihre irritierendste: Anders als bei Vögeln wachsen sie immer wieder nach. Gerade die Grünen haben dies erfahren können. Obwohl immer wieder ganze Gruppierungen, meistens die „Fundis“ oder „Linken“, ausgetreten sind, hat sich am „Flügelschlagen“ nichts geändert. Wer ehedem rechts war, fand sich oft plötzlich als eine Feder des linken Flügels wieder. Die andere erstaunliche Besonderheit der parteilichen Schwingen: Es kommt durchaus vor, dass sich die programmatischen Positionen überkreuzen. Von außen ist deutlich zu beobachten, dass die Linken einer Partei auch rechte Positionen vertreten und umgekehrt. Diese inhaltliche und personelle Mobilität der Flügel ist nur zu verstehen, wenn man nicht glaubt, sie würden vor allem die parteiinterne Programmdebatte organisieren. Organisiert wird etwas anderes: Die Flügel sind die sicherste und schnellste Methode, die Zahl der Kandidaten bei jedem Posten auf genau zwei zu reduzieren.

Noch schöner als die Flügelpartei ist allerdings die Führerpartei, um das Unvorhersehbare zu bannen. Dort finden Zufälle einfach gar nicht statt. Um historische Assoziationen zu vermeiden, heißt es Neudeutsch „patriarchalischer Führungsstil“. Hier wird zwar gewählt, aber eher formell. Karriere und Wahlerfolg hängen vom Wohlwollen des Vorsitzenden ab, und das ist vorab bekannt. Dies war das Modell Adenauer, Strauß, Kohl, ist das Modell Stoiber – und wird immer mehr zum Modell Schröder und vielleicht sogar Fischer. Denn aus jeder Flügelpartei kann eine Führerpartei werden – aus einem einfachen Grund: Die Flügel, beide für sich, funktionieren sowieso schon wie interne Führerparteien. Sie unterliegen nicht mehr dem Verfassungsgebot der demokratischen Wahlen, die „normale“ Hierarchiemuster nur stören (wie der Lehrer in der Sportstunde). Flügel verhalten sich wie Schulhof-Cliquen, die in der Raucherecke endlich zu sich selbst finden dürfen. Ohne weitere Vorgaben drängt die Gruppe zu einer informellen Hierarchie, in der sich jeder an seinem Platz sicher fühlen kann. Wer aufbegehrt, gewinnt oder wird rausgeworfen.

Kohl hinterließ mehr als einen Liebling – und sie alle sindgleich schwach

Gegen Kohl hatte bisher niemand eine Chance, alle rauflustigen Cliquen-Brüder sind längst Randfiguren der Partei (Geißler, Süssmuth, Biedenkopf ...). Der große Vorsitzende hätte seinen Nachfolger selbst bestimmen müssen, doch verstarb er überraschend, politisch jedenfalls. „Die Ära Kohl ist tot“, das haben verspätet sogar die Christdemokraten bemerkt. Leider hinterließ er mehr als einen Liebling, und alle sind sie gleich schwach. Desorientiert müssen sie nun die Rangfolge klären. Im Altertum wären jetzt die berühmten Diadochen-Kämpfe zwischen den Günstlingen ausgebrochen. Ein munteres Morden aus dem Hinterhalt. Auch im Zeitalter der Parteiendemokratie müssen Truppen gesammelt werden, auf Sofas und in Kneipen, um auf den Parteitagen wirksam zuzuschlagen. Und wo es keinen Kopf gibt, da wachsen einer Partei Flügel. Plötzlich hat auch die CDU wieder welche. Wie immer genau zwei natürlich: „Kohlianer“ gegen „Aufklärer“ wurden sie von den Medien getauft.

Während die Grünen auf jedem Parteitag die Stärke ihrer Flügel aktuell ermitteln, kann die CDU als neu geborene Flügelpartei noch auf keine empirischen Messdaten zurückgreifen. Also müssen die unerprobten Flügel-Gründer lavieren. Erst Gespräche mit der Süddeutschen, dann doch Dementis. Rüttgers wagt keine Gegenkandidatur. Vorgestern steuerten die Auseinandersetzungen einem ersten Höhepunkt zu: Schäuble stellte die Vertrauensfrage im Präsidium, um überhaupt einmal die Stärke der neuen CDU-Flügel zu überblicken. Kaum hatte er sich durchgesetzt, wurde erleichtert, ja fast triumphal bekannt gegeben, dass der „parteiinterne Machtkampf“ beendet sei. Vielleicht wird die CDU auch unter Schäuble sofort wieder zur Führerpartei (falls nicht weitere Spendenaffären dazwischenkommen) – wahrscheinlicher ist, dass Jahre der Flügelkämpfe folgen. Diverse Kandidaten positionieren sich gerade – etwa der Niedersachse Christian Wulff. Lange Auseinandersetzungen wären jedenfalls historisch nicht ungewöhnlich: Auch nach Adenauer hat es mehr als ein Jahrzehnt gedauert, bis sich ein neuer Führer durchgesetzt hatte: Helmut Kohl. Ulrike Herrmann