Russland droht mit dem atomaren Knüppel

In seiner neuen Sicherheitsdoktrin setzt Russland die Schwelle für einen atomaren Erstschlag herunter. Die Feinde lauern innen und außen. An einer Kooperation mit dem Westen hält Moskau fest ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Es soll einmal eine Welt gegeben haben, in der Russland „keine außenpolitischen Feinde“ hatte, mit der Nato eine „Partnerschaft“ anstrebte und all seine militärischen Instrumente als „Verteidigungsinstrumente“ betrachtete. Dies war in einem anderen Jahrtausend, 1997, als die bisher geltende Sicherheitsdoktrin formuliert wurde. Rechtzeitig vor dem heutigen Besuch von Außenminister Joschka Fischer wurde nun der Ukas Nr. 24 des Interimspräsidenten Putin veröffentlicht – angeblich nur eine Überarbeitung des alten Dokuments, praktisch aber eine völlig neue „Konzeption der nationalen Sicherheit“.

Dieser Staat findet sich, wenn man der Logik des Dokuments folgt, gleich in zwei neuen Welten wieder. Da ist die Rede vom Kampf „zweier einander ausschließender Tendenzen“ auf unserem Planeten. Die erste, das Streben nach einer multipolaren Welt, wird von der Russischen Föderation repräsentiert, die zweite von den USA und den „entwickelten“ westlichen Ländern, die in den internationalen Beziehungen darauf abzielen, wie es heißt, „die Hauptprobleme der Weltpolitik einseitig, vor allem militärisch-gewaltsam zu lösen, unter Umgehung der grundlegenden Normen des internationalen Rechts“.

Die Armee und alle Institutionen, die in der alten Fassung „Verteidigungskräfte“ hießen, werden jetzt als „Kriegskräfte“ bezeichnet, und mit ihren Kanonen brauchen sie nicht auf Spatzen zu zielen: die neue Doktrin hält großkalibrige Feinde für sie bereit.

Das Dokument betont die wichtige Rolle Russlands in den weltpolitischen Prozessen. Aber „eine Reihe von Staaten“, so heißt es, versuchten das Land zu schwächen und zu marginalisieren, und an anderer Stelle: „Die Intensität und das Ausmaß der Bedrohungen auf militärischem Gebiet wächst.“ Als bedrohliche außenpolitische Faktoren werden die neue Nato-Strategie und die Nato-Osterweiterung genannt, außerdem die mögliche Schaffung ausländischer Militärbasen nahe der Grenze der Russischen Föderation.

Da die russischen Streitkräfte technisch mangelhaft ausgestattet sind, bleibt kein anderes Druckmittel mehr übrig als der atomare Knüppel. Der Verschluss des Sakkes, in dem sich dieser Knüppel befindet, wird kräftig gelockert. Während die alte Doktrin den Atomwaffeneinsatz nur rechtfertigte, „falls die Russische Föderation in ihrer Existenz als souveräner Staat bedroht“ sei, wird er diesmal auch für möglich gehalten: „Falls es nötig ist, eine militärische Aggression abzuwehren, wenn alle anderen Mittel zur Beilegung der Krise ausgeschöpft sind oder sich als ineffektiv erwiesen haben.“ Auch ein Angriff auf eine auf fremdem Territorium, z. B. in Armenien, stationierte Einheit russischer Streitkräfte kann jetzt die Stunde X einläuten.

Trotz allem zeigen sich die Autoren zu einer „Kooperation“ mit dem Westen bereit. Darum kommen sie kaum herum, streben sie doch weiter eine Integration Russlands in die Weltwirtschaft an.

Die Regierung Putin erkennt jene Realität an, derzufolge die Hauptbedrohungen für die Russische Föderation nicht von außen kommen, sondern von innen. Als erste Aufgabe wird deshalb der Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen genannt, gegen Nationalismus und Separatismus und ökologische Gefahren. Es wird auch anerkannt, dass diese Phänomene in der schlechten Wirtschaftslage wurzeln.

Doch offenbar betrachtet es diese Sicherheitsdoktrin nicht als ihre Aufgabe, nach den Wurzeln des Übels zu suchen, sondern nach Mitteln zu ihrer Ausrottung. Da ist es nur logisch, dass der Einsatz der Armee gegen das eigene Volk wieder sanktioniert wird. Vorgesehen ist er in allen Fällen, in denen dem Leben der Bürger oder der territorialen Einheit des Landes Gefahr droht oder versucht wird, die Verfassung mit Gewalt zu ändern.

Wen Teile dieser Konzeption in großen Teilen an die Zeit des Kalten Krieges erinnern, der sollte bedenken, dass der Kalte Krieg auch seine eigenen kalten Spielregeln entwickelte. Heute müssen neue her. Die russische Regierung hat in letzter Zeit wiederholt bewiesen, dass auch sie solche Regeln selbst nicht unbedingt in den internationalen Konventionen und überregionalen Organisationen sucht.

Russland hat diese Regeln nicht nur in Tschetschenien ignoriert, sondern letzte Woche auch in seiner Politik gegenüber dem Iran. Entgegen dem Tschernomyrdin-Gore-Abkommen von 1995, in dem sich Russland verpflichtete, nach 1999 alle Waffenlieferungen an diesen Staat einzustellen, hat es nach einer bisher undementierten Meldung der Agentur Interfax mit der Lieferung von fünf Mi-171-Helikoptern an Teheran begonnen.