Wiens große Koalition: Einig und doch nicht einig

■ Die alten und zukünftigen Regierungsparteien wollen wieder miteinander, streiten aber auch nach einer Vereinbarung weiter

Wien (dpa) – Kaum hatten sich in den frühen Morgenstunden Sozialdemokraten (SPÖ) und konservative Volkspartei (ÖVP) in Österreich grundsätzlich auf eine Neuauflage ihrer Regierungskoalition verständigt, ist gestern schon wieder neuer Streit zwischen den langjährigen Koalitionspartnern ausgebrochen. Zunächst hatte das SPÖ-Präsidium am Morgen einstimmig das Regierungsprogramm gebilligt und der ÖVP-Vorstand zeitgleich mit 23 gegen vier Stimmen zugestimmt. Nur wenige Stunden später stellten Spitzenpolitiker beider Lager jedoch das gemeinsame Koalitionsprogramm wieder in Frage.

„Es ist eine völlige Fehleinschätzung, wenn man meint, diese Regierung steht“, sagte der einflussreichste ÖVP-Politiker, der niederösterreichische Ministerpräsident Erwin Pröll, in der Landeshauptstadt St. Pölten. Voraussetzung für die neue Regierung sei, dass die SPÖ das Finanzministeriums an die ÖVP abträte. Das lehnen die Sozialdemokraten aber strikt ab. Auch die Sozialministerin Lore Hostasch (SPÖ) behauptete, die Bemühungen um eine neue Regierung seien noch lange nicht abgeschlossen, weil „keine endgültigen Vereinbarungen vorliegen“.

Noch massiver kritisierte der Vorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), Fritz Verzetnitsch, das Abkommen, obwohl er ihm wenige Stunden zuvor im SPÖ-Präsidium zugestimmt hatte. Die Gewerkschaften würden der geplanten Erhöhung des Eintrittsalters in den Ruhestand um zwei Jahre „nicht zustimmen“, sagte Verzetnitsch. „Voraussetzung für eine Zustimmung des ÖGB“ sei eine Änderung dieses Vorhabens. Die ÖVP lehnte es im Gegenzug ab, darüber noch einmal zu verhandeln.

Unterdessen ist die Lockerung der österreichischen Neutralitätsverpflichtung als ein zentraler Punkt des bisher unveröffentlichten Regierungsprogramms zwischen SPÖ und ÖVP bekannt geworden. Danach soll die 1955 versprochene „immer währende Neutralität“ nur noch außerhalb Europas gelten. In Europa will Österreich an einem Sicherheitssystem teilnehmen, das auch eine Beistandspflicht vorsieht. Darüber soll eine Volksabstimmung entscheiden.

Um den Fehlbetrag im Staatshaushalt zu verringern, sollen Staatsbetriebe privatisiert und rund 9.000 Beamte eingespart werden. Daneben soll die Maut für Lastwagen eingeführt und die Vignette für Pkw drastisch erhöht werden. Im Gespräch sei eine Anhebung von heute 550 auf 1.000 Schilling (von 79 auf 143 Mark). Schließlich sollen die Lohnnebenkosten um 15 Milliarden Schilling in drei Jahren gesenkt, die Mineralölsteuer „auf das deutsche Niveau“ angehoben und die Armee des Landes mit neuen Hubschraubern und Flugzeugen ausgestattet werden.

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