Solides Unglück

Berlin Scanner: Manchmal bleibt man länger in einer Wohnung, als es einem gut tut. Im „Gästehaus Düsseldorf“ war ■ Ulrich Peltzer

Später entwickelt man auf alles einen gewissen Stolz. Man scheint doch immer sehr souverän mit den Dingen und Verhältnissen umgegangen zu sein, vor allem, wenn man anderen von ihnen erzählt. Aber das ist natürlich nicht wahr. Viel eher gerät man in Geschichten hinein und weiß dann oft nicht, wie man sie wieder verlassen könnte. Mir geht es jedenfalls so, wenn auch früher häufiger als heute. Ein gewisses Phlegma mag Schuld daran sein, zum Beispiel länger, als es einem wirklich gut tut, in einer Wohnung zu bleiben.

Was man zum Leben braucht, war vorhanden, das Appartement im siebten Stock möbliert, es gab ein kleines Duschbad und im schrankgroßen Vorraum, in den man von einem langen, neonbeleuchteten Flur trat, Nirosta-Spüle, Kühlschrank und zwei Kochplatten. Genau betrachtet, handelte es sich um ein Wohnheim für Facharbeiter aus Westdeutschland, wohl in den frühen sechziger Jahren gebaut, dessen Betrieb vom Senat subventioniert wurde, um die industrielle Basis der westlichen Hälfte der Stadt auch mit einheimischem Personal zu versorgen. Anscheinend hatte sich der Zustrom inzwischen so ausgedünnt, dass sich die Verwaltung mit meinem Versprechen beschied, auf Arbeitssuche zu sein und die Papiere bei Gelegenheit nachzureichen. Ich war im zweiten Semester und brauchte dringend Unterkunft, nachdem ich aus einer ohne Mietvertrag bezogenen Wohnung raus musste.

Wahrscheinlich entsprach die Ausstattung einem Komfort, der sich einstmals sehen lassen konnte, 1976 aber schon deutlich die Spuren der Zeit zeigte, alles wirkte angestoßen, mittelschwer verschlissen, und wurde eigentlich nur noch durch die Trägheit der Gegenstände selber zusammengehalten; dass auch der Müllschlucker kaputt war, irgendwie verstopft und nie mehr in Ordnung gebracht, rundete das Erscheinungsbild ab, wie überhaupt das ganze, aus zwei Gebäuderiegeln bestehende Haus in merkwürdiger Weise zu der Gegend passte, in der es stand, Bülow- Ecke Frobenstraße. Mit seiner schmucklosen, gräulich verrußten Kachelfassade und den Reihen gleichförmiger Fenster von Stockwerk zu Stockwerk hätte man es auch für eine Art überdimensioniertes Bordell halten können, von denen es damals in diesem Teil Schönebergs die Menge gab, Stundenhotels, Film-Bars, Fusel-Spelunken, Spielcasinos.

Links und rechts der Potsdamer Straße als Hauptachse des Bezirks streuten sich die Rotlichtläden bis in die Seitenstraßen hinein. Kaum ein Haus war saniert, und an manchen Stellen traf man in Baulücken auf zweigeschossige Behelfsbauten, die den Eindruck hervorriefen, unmittelbar in die Nachkriegszeit zurückversetzt zu sein. Hinter meiner Bleibe lag ein ausgedehntes, mit spärlichem Gras bewachsenes Trümmergrundstück, auf dem sich Trampelpfade verzweigten, einen davon benutzte ich fast täglich, um mir in der Winterfeldstraße Zeitung (oft Der Abend) und Zigaretten zu holen. An jenem Kiosk begegnete mir, der aus geordneten provinziellen Verhältnissen stammte, auch der erste Säufer meines Lebens, ein etwa dreißigjähriger Mann, der frühmorgens mit stark zitternden Händen eine kleine Flasche Weinbrand auf ex leerte, sich dann eine zweite bestellte, mit der er abzog.

Der Kontrast zwischen meiner Vorstellung vom Leben in Berlin und dieser Wirklichkeit war nicht gerade gering, und während des Gemüseeinkaufs Zeuge einer Schlägerei vor dem Pik As (oder vielleicht Goldene 7) zu werden zwar nicht die Regel, aber auch keine Ausnahme. Jedoch verlor das Geschehen im Lauf der Zeit seine Exotik, man gewöhnte sich daran und nahm es nach einigen Monaten als nichts Besonderes mehr wahr. Letzter Stützpunkt der „Gegenwelt“ aus Sex und Zocken war das Metropol am Nollendorfplatz, das vor seinem Umbau zur Diskothek ein trübes Pam-Porno-Kino beherbergte, finale Stufe des Abstiegs vom experimentellen Theater Piscators, das in den 20er-Jahren dort seinen Ort hatte.

Übrig geblieben ist nichts, alles ist verschwunden, die Bars, die Hotels, die Leute, auf dem Trümmergrundstück wurde ein Wohnblock hochgezogen. Nur das Gästehaus steht noch, leer inzwischen, wie der Discount 2000 im Erdgeschoss und das so genannte Casino auf der anderen Seite, seit langem erloschen die gelbe Leuchtschrift über dem Eingang. Früher saß drinnen vor den Schlüsselfächern ein öliger Portier, der einem seine Post aushändigte oder das Telefon durchstellte. Jedes Mal, wenn ich damals an ihm vorbeiging, dachte ich, ich muss mir sofort eine andere Wohnung suchen, ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Ich bin dann doch mehr als ein Jahr geblieben, ein Jahr, das mir im Rückblick, bin ich ehrlich, als eine Zeit soliden Unglücklichseins vorkommt – Stoff für Geschichten.

Gästehaus Düsseldorf, Bülow-, Ecke Frobenstroße

Ulrich Peltzer ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Sein letzter Roman „Alle oder keiner“ ist bei Amman erschienen.