Aus Gurus Funken schlagen

■ Respektlosigkeit fördert Erleuchtung: Das ist die Lehre aus Janwillem van de Weterings Buddhismusbuch „Reine Leere“, in dem er seine Erfahrungen als Zen-Schüler schildert

Kennen Sie den? „Der Priester Sekiso sagte: ‚Du befindest dich oben auf der Spitze einer dreißig Meter langen Stange, wie bewegst du dich jetzt vorwärts?‘ “ Der Priester Sekiso hatte offenbar guten Humor, nicht weniger als jener berühmte Kommentator, der auf seine Frage antwortete: „Tu den nächsten Schritt.“ Denn wer ihn getan hat, findet sich unversehens bei Meister Kyogen wieder, der sagte: „Du bist auf einen hohen Baum geklettert. Du rutscht aus. Du klammerst dich mit dem Mund an einen Ast, deine Arme und Beine haben keinen Halt. Also, wenn ich nun unter dem Baum stehe und dich nach der Bedeutung des Buddhismus frage ... wie ? Antwortest du nicht, weichst du meiner Frage aus; antwortest du, stürzt du zu Tode. Wie wirst du nun meine Frage beantworten?“

Prekäre Aussichten also sowohl für Kandidaten, die schon auf der Spitze hoher Stangen sitzen und den nächsten Schritt tun sollen, wie für bereits Abgestürzte, denen der Meister, wenn sie ihm antworten, den letzten Halt nimmt.

Janwillem van de Wetering, Autor der „Erfahrungen eines respektlosen Zen-Schülers“, die er nicht ohne eine gehörige Portion Ironie mit dem meditationsfrommen Titel „Reine Leere“ überschreibt, hat seinen Spaß an dieser Art von paradoxen Rätselfragen. Der mit dem Zen-Buddhismus vertraute Leser weiß, dass es sich um Koans handelt. Das Lösen von Koans soll zur Erleuchtung, zu „satori“ führen. Aber was heißt da schon soll? Jäh, mit der Schnelligkeit eines Samurai-Schwerthiebes schlägt der Blitz in das in sich, seinen Konventionen, Begriffen und Wertungen, seinen Fragen und Antworten befangene Bewusstsein ein, um es zur „reinen Leere“ zu befreien. So will es jedenfalls die „reine Lehre“, jetzt zur Abwechslung einmal mit „eh“ geschrieben. Doch nach de Weterings respektloser Erfahrung führt die Lösung eines Koans immer nur zu einem weiteren Koan, präziser Ausdruck eines Lebens, das Rätsel auf Rätsel häuft.

De Wetering ist ein herrliches Buch gelungen, mit einer Fülle von Gestalten und Geschichten, die man so schnell nicht vergisst, spannend, lakonisch, paradox, klug und überaus witzig. Er schöpft aus der reichen Erfahrung eines seit über 40 Jahren Meditierenden, der unter den Meistern, den Priestern, den Lamas, den Gurus zu Hause ist. Aber zu Hause kann man erklärtermaßen nur in der „Hauslosigkeit“ sein, auch wenn an jeder Meditationsecke ein Heilsvermittler wartet, der uns zur Erleuchtung führen will. Die Patriarchen, die Äbte, alle die Senseis und Rimpoches – nichts Menschliches ist diesen Hundertschaften von „Living Buddhas“ fremd. Sie lieben das Geld, die Frauen, den Alkohol, die Macht und die Erleuchtung, sofern sie ihre Macht der Erleuchtung ist.

Trotzdem liegt de Wetering nichts ferner als die tristen Aufklärungsbemühungen eines Desillusionierten. Seine Doppeltbegabung als – sehr erfolgreicher – Zen-Experte und Krimiautor, der in seinem Buch „Inspektor Saitos kleine Erleuchtung“ beide Stränge ironisch verbunden hat, hätte ihn auch zum Detektivischen im Sinn der Fallaufklärung führen können. Die paradoxen Rätselfragen der Koans scheinen ohnehin nach Lösung zu verlangen. Insofern sind Zen und Krimi bei de Wetering prästabiliert. Was aber sein Buch zu einer so ansteckenden Lektüre macht, ist die Synthese von Realismus, Respektlosigkeit, unprätentiöser Weisheit und abgründigem Witz. Aus allen Debakeln, allen Miseren, allen Gurus schlägt er seinen Funken. Und manchmal gibt es auch einen wie Roshi, der jede Ausleuchtung der Szene bestens übersteht. Im Übrigen: Respektlosigkeit ist erleuchtungsförderlich. Im Unterschied zu manchen anderen Respekt heischenden Heils- und Wahrheitsbesitzern verbindet der Zen-Buddhismus die Anarchie mit der Erleuchtung. Nur im Schlusskapitel, wo de Wetering unbedingt das Positive bieten will, wird er allzu respektvoll und fromm. Da gerät er in die Nähe des meditativen Psycho-Kitsch-Geredes vom „Loslassen“.

Aber sonst? Der Mann ist ziemlich weit oben auf der Stange. Die Frage nur: Wohin tut er den nächsten Schritt? Ludger Lütkehaus

Janwillem van de Wetering: „Reine Leere“. Ins Deutsche übersetzt von Klaus Schomburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999, 223 Seiten, 36 DM