König Kunde, kopflos

Die Deutschen, lautet eine der gängigsten neoliberalen Klagen, hätten verlernt zu (be-)dienen. Mit unfreundlichem Personal sei der Wandel vom Industrie- zum Dienstleistungsstandort nicht zu schaffen. Doch das ständige Jammern über arrogantes Personal ist nicht zuletzt das Resultat einer disziplinlos gewordenen, gedankenlosen Gesellschaft. Ein Brevier mit Verhaltenstipps für einen gelungenen Winterschlussverkauf von Reinhard Krause

Die erste Lieblingsverkäuferin meines Lebens hieß Frl. H. und arbeitete an der Wursttheke der Bielefelder „Kaufhalle“. In einer Stadt, deren Bewohner ohnehin für ihre Wortkargheit geradezu berüchtigt sind, meinte Fräulein H. vermutlich, überregionale Benimmregeln für das Verkaufen seien ungültig. Ein typischer Dialog mit ihr verlief ungefähr so: „Hundert Gramm Mettwurst, bitte.“ Stöhnen. „Noch was?“ – „Nein, danke.“ – „Gut!“

Frl. H.s Art, Wurst zu verkaufen, war zu einer Zeit, als das Wort Dienstleistungsgesellschaft noch nicht geprägt war, nicht die Regel, sondern ausgesprochen verblüffend. Wollte man ihre Technik auf einen Begriff bringen, könnte man sagen: Frl. H. verhielt sich authentisch. Oder kurz: Sie hatte keine Lust auf Wurstverkauf. Von der Haltung her war Frl. H. ein Punk. Abgesehen von ihrer unfrohen Aura, arbeitete sie aber recht zügig.

Ganz anders die Nachwuchskraft bei meinem Bäcker. Hier lief der Einkauf ganz unbielefelderisch ab: „Guten Morgen! Was kann ich bitte für Sie tun?“ – „Vier Brötchen.“ – „Vier Brötchen, gerne! Darf es vielleicht sonst noch etwas sein?“ – „Ein Weißbrot.“ –„Danke, ein Weißbrot! Kann ich sonst noch mit etwas dienen?“ – „Nein, danke.“ – „Dankeschön! Drei Mark neunzig, bitte. Vielen Dank. Zehn Pfennig zurück, bitte sehr. Auf Wiedersehen! Und Dankeschön!“ Dieses Programm, untermalt von nimmermüdem Lächeln und Strahlen, hielt sie vier Wochen durch, dann hieß es in der Bäckerei nur trocken: „Die hatte einen Nervenzusammenbruch.“ Kein Wunder!

Hand aufs Herz: Würden wir eine Einkaufswelt, in der es zugeht wie in der Dallmayr-Werbung, wirklich wollen? In der devote Lakaien in tadellos sitzenden, gestärkten Schürzen und Verkaufsuniformen allzeit ergeben lächelnd wie Maschinen Dienst am Kunden tun? Würden wir uns nicht permanent verschaukelt fühlen – wie König Kunde, dem mit viel Liebedienerei ein fragwürdiges neues Beinkleid angedreht werden soll?

Später, als ich in einem Hamburger Schuhladen jobbte, lernte ich das Verkaufen von der anderen Tresenseite her kennen. Ich merkte: Kunden können bezaubernd sein, aber auch Ausgeburten der Hölle oder gedankenlose Trottel. Und: Es gibt Dinge, die sollte man beim Einkaufen besser unterlassen.

Der erste Misston zwischen Verkäufer und Kunde entsteht häufig schon, wenn dieser den Laden betritt – vor allem, wenn es sich um ein überschaubares oder gar kleines Geschäft handelt. Besonders KundInnen, die sich zunächst nur umsehen möchten, haben oft die merkwürdige Idee, sie würden dem Personal durch einen Gruß wertvolle Zeit stehlen. Also schleichen sie wie Diebe um die Regale, vermeiden jeden Blickkontakt mit dem Personal und verschwinden häufig ebenso grußlos, wie sie gekommen sind. Derweil hat das Personal – vorausgesetzt, es handelt sich um gute, aufmerksame VerkäuferInnen – die ganze Zeit innerlich auf stand-by geschaltet. Nach fünf solchen Kunden stellt sich beim Verkäufer das unschöne und vom Kunden vermutlich überhaupt nicht beabsichtigte Gefühl ein, Luft zu sein, ein Nichts. Und der sechste Kunde muss diese vermeintliche Missachtung womöglich büßen.

Ein schlichtes „Guten Tag“ oder „Hallo“ hingegen signalisiert: „Ich sehe dich, du siehst mich, und wenn ich etwas Konkretes will, werde ich mich bei dir melden.“ Spätestens aber, wenn man sich an einen Verkäufer wendet, sollte man sich die Zeit für einen Gruß nehmen. Kaum etwas ist unschöner als ein Verkaufsgespräch, das mit „Und zwar ...“ beginnt.

Mittlerweile rangiert Einkaufen ganz oben auf der Liste der liebsten Freizeitaktivitäten. Ist der Kaufvorgang, das Sich-etwas-Gönnen nicht zuweilen schon wichtiger als der unmittelbare Nutzen des gekauften Gegenstandes? Man kann diesen Wandel kulturpessimistisch als Mangel an Kreativität beklagen – auch wenn diese Entwicklung für den Einzelhandel ganz neue Umsatzperspektiven eröffnet. Noch gar nicht richtig absehbar ist aber auch der Umstand, dass damit dem Verkaufspersonal zunehmend die Rolle von Freizeitanimateuren aufgebürdet wird. VerkäuferInnen werden auf diesem Weg zum Testfeld für die Planlosigkeit der KundInnen.

Gelegentlich hilft hier ein forsches Wort. Wie etwa bei der gelangweilten sechzehnjährigen, die nach einer halben Stunde Intensivbetreuung mit völlig erlahmender Stimme sagte: „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Lust auf neue Schuhe habe.“ Musste sich diese Kundin wundern, dass sie nun den Tipp erhielt, sich über diesen Punkt doch zunächst an der frischen Luft Klarheit zu verschaffen? Nach einer halben Stunde war sie wieder da, kaufte ohne Federlesens ein paar Stiefel und schien hoch zufrieden.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus setzte sich die Meinung durch, der Kapitalismus sei die einzig funktionierende Wirtschaftsform. Das mag nicht völlig falsch sein. Über demokratischen Errungenschaften wie Pluralismus und individueller Freiheit scheinen viele Menschen jedoch zu vergessen, dass Kapitalismus nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage funktioniert. Und dieses recht plumpe Prinzip hat ein kompliziertes Phänomen namens Mode hervorgebracht. Erklären Sie einmal jemandem, dass es die tollen Schuhe mit der britischen Flagge auf der Kappe, die er vor fünf Jahren einmal in diesem Laden sehr günstig gekauft hat, längst nicht mehr gibt.

Oder was entgegnen Sie dem Kunden, der den Laden betritt, sich einen offenbar x-beliebigen Schuh aus dem Regal greift und sich dem Tresen mit den Worten nähert: „Ich suche genau diesen Schuh als Zehn-Loch-Stiefel, aber nicht in Braun, sondern in Grün, nicht in Wildleder, sondern glatt und mit einer Stahlkappe.“ Mein Kollege versuchte es seinerzeit mit der Antwort: „Und wenn man ihn anzieht, singt er mit Mickymausstimme ‚Happy Birthday‘?“

Manches im Verhalten von Kunden grenzt an Nötigung. Ob aus purer Gedankenlosigkeit oder aus Berechnung – gelegentlich äußern sie Wünsche, die den Boden der Legalität verlassen. Ein Beispiel: Ein zirka vierzigjähriger Mann entschließt sich spontan, seiner deutlich jüngeren weiblichen Begleitung einen absurden, geradezu untragbaren Holzpumps zu schenken, über den beide herzlich lachen können. Ein Sonderposten für fünfzig Mark. Die größte Überraschung aber kommt beim Bezahlen, als der Mann, offenbar ein Arzt, vor den Ohren seiner Begleiterin eine Quittung für „OP-Schuhe, weiß“ verlangt. Nicht nur, dass er sein Geschenk vom Staat kräftig bezuschussen, wenn nicht komplett bezahlen lässt, er nötigt den Verkäufer auch zu einer Fälschung, für die er später möglicherweise den Kopf hinhalten muss. Vermutlich wird der Verkäufer das Ansinnen erfüllen – aber vielleicht wird er auf dem Beleg „Schuhgröße 37“ vermerken.

Eine andere Form krimineller Energie ist das Manipulieren der Ware. Ein Verkäufer bekommt schnell ein Gespür dafür, dass übertrieben vehemente Reklamationen häufig auf Schäden basieren, die der Kunde selbst verursacht hat. Auch hier gilt: Der Unterton macht die Musik. Ist die Ebene der Sachlichkeit verlassen, ist kaum noch mit Kulanz zu rechnen.

Merkwürdigerweise scheinen bestimmte Berufsgruppen für Krawallkauf prädestiniert zu sein. Eine Steinmetzin erzählte mir einmal, dass in ihrem Betrieb bei jedem umfangreicheren Auftrag zunächst beiläufig nach dem Beruf des Kunden gefragt werde. Gibt sich der als Lehrer oder Jurist zu erkennen, wird die Bearbeitung mit Hinweis auf Lieferschwierigkeiten so in die Länge gezogen, bis der Auftrag vom Kunden storniert wird. Die Zahl der juristischen Auseinandersetzungen mit Kunden sei auf diese Weise drastisch zurückgegangen.

Regelmäßiger Anlass für Differenzen sind auch Sonderverkäufe. In jeder Branche gibt es Produkte, für die guten Gewisens nicht mehr der volle Ladenpreis verlangt werden kann. Ist der Ladenpreis erst einmal aufgehoben, tritt eine Kundengruppe auf den Plan, die einen regelrecht sportlichen Ehrgeiz entwickelt, den Preis so weit wie nur möglich zu drosseln. Nichts spricht gegen die Frage, was denn der „letzte Preis“ für ein derartig minderes Exemplar sei. Im Eifer des Gefechts achten passionierte Schnäppchenjäger jedoch nur selten darauf, einen günstigen Moment abzupassen. Je mehr KundInnen in Hörweite sind, desto geringer die Chancen auf einen kräftigen Preisnachlass. Denn kein Verkäufer kann ein Interesse daran haben, bei jedem Produkt in aufwendige individuelle Preisverhandlungen einzutreten. Auch allzu eigenmächtige Preisvorschläge seitens der Kundschaft, damit sollte sich jeder Kunde wappnen, werden entsprechend resolut gekontert.

Ohnehin ringt man als VerkäuferIn oft genug nach Fassung und Worten. Wohl dem, der schlagfertig ist. Bei einem Hamburger Tropenausstatter erlebte ich im letzten Sommer eine wunderbare Szene. Eine Frau wollte für ihren etwa 25-jährigen Sohn ein paar Leinenhemden kaufen. Ihrer mühsam unterdrückten Anspannung war deutlich anzumerken, dass sie sich diebisch über die niedrigen Preise freute. Trotzdem fühlte sie sich befleißigt, Zweifel an der Pflegeleichtigkeit der Ware anzumelden. Wollte sie den Preis noch weiter drücken? Und wie reagierte der überaus gesetzte Verkäufer? Der schaltete mit der Souveränität eines britischen Butlers auf Tropenfachverkäufer und sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: „Ach was, die Hemden ziehen Sie einfach zwei-, dreimal durch den Fluss, und sie sind wieder wie neu.“

Reinhard Krause, 38, ist Redakteur im taz.mag. Am liebsten kauft er auf dem Flohmarkt ein