Salzstreuer von Ermordeten

Was geschah mit dem ehemals jüdischen Besitz, nachdem die europäischen Juden schrittweise enteignet und schließlich in die Vernichtungslager deportiert worden waren? Der deutsche Staat konfiszierte und verscherbelte ihn auf eigens eingerichteten Auktionen. Käufer waren oft die früheren Nachbarn Von Philipp Gessler

Nicht überliefert ist, ob Knochen, Haut, Haare und Zahngold der Rübstecks aus dem Dorf Hemmerden bei Mönchengladbach etwas einbrachten. Ihr Hab und Gut jedenfalls wurde nach ihrer Deportation am 21. August 1942 vor ihrem Haus, Hindenburgstraße 23, für 131 Reichsmark und 57 Pfennige zu Gunsten der Staatskasse öffentlich versteigert. Ihre Nachbarn konnten zwei Nachttische, zwei Kochtöpfe und anderes billig erwerben. Erich Günther, Obergerichtsvollzieher aus der Nachbarstadt Grevenbroich, leitete das Ganze, ihm half der Steuerinspektor Josef Krüppel. Der bemängelte, es fehle aus einer früheren Aufstellung des Vermögens der Juden einiges, etwa drei Garnituren Unterwäsche. Nach der Versteigerung zogen die Beamten ihren Anteil vom Erlös ab.

Wer profitierte vom Holocaust? Nicht nur Nazi-Obere wie Hermann Göring, der ganze Gemäldesammlungen abräumen ließ, und verschwiegene Industrielle wie Friedrich Flick, der seinen Konzern mehrte. Auch Lieschen Müller machte ihren Schnitt. Die „ordinary Germans“ Daniel Goldhagens wüteten als „willige Vollstrecker“ nicht nur im KZ, sondern auch in ihrer Nachbarschaft – als willige Erwerber beim deportierten Juden um die Ecke, dessen Haus, Auto oder Kochlappen sie zu Schnäppchenpreisen erstanden. Hunderttausende einfache Arier bereicherten sich am Mord.

Diese dreckige Angelegenheit kommt erst heute nach und nach heraus. Bisher verhinderten das kollektive Schweigen der biederen Profiteure und Aktenverschlussgesetze für Steuersachen die Aufklärung dieses verdrängten Stücks Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Dritten Reichs.

Wie funktionierte die Ausplünderung der Juden konkret? Nach dem Schema F und strikt nach Gesetz: Vor der Deportation mussten die Juden eine Aufstellung ihres Vermögens machen – selbst Kinder hatten dies mit Hilfe ihrer Eltern zu tun. Dann musste die Familie Haus oder Wohnung räumen. Ein Vertreter des Finanzamtes wie Herr Krüppel, der Hausverwalter und ein vereidigter Schätzer verglichen die Einrichtung mit der Vermögensaufstellung und vermerkten fehlende oder zusätzliche Stücke. Eine Anzeige in der Lokalpresse kündigte die Versteigerung an. Der Ertrag ging an das Finanzamt, das ab und zu für seine Leute noch etwas abzweigte.

So erbrachte etwa die Versteigerung von „Juden-Vermögen“ am 7. September 1942 in Hennef 3.492,50 Reichsmark: Familie Kehlenbach erwarb fünf Unterhosen für 4,50 Reichsmark, die Schumachers zwei Betten mit Einlagen und ein komplettes Schlafzimmer aus Eiche für insgesamt 1.180 Reichsmark. Unter den Hammer kamen bei solchen Versteigerungen aber auch Spielzeug, Altpapier, Briketts, Toiletteneimer, Salzstreuer, Fracks oder Kleiderbügel für 1 Reichsmark (Käufer: Oberregierungsrat Dr. Thomas aus der Gartenstr. 16 in Köln). Haus oder Wohnung der Ermordeten fielen dem Staat zu – die Mieteinnahmen der einziehenden Arier ebenfalls.

Und so lief’s in halb Europa: In den besetzten Gebieten wurden Juden zuerst deportiert (Nazijargon: „Aktion 3“), dann ihre Möbel konfisziert und ins Reich gebracht: Das war die „Aktion M“, für „Möbel-Aktionen“. In Groß-Paris waren im September 1943 etwa 35 Kommandos für das Räumen von über 18.000 Wohnungen jüdischer Bürger im Einsatz. In riesigen Lagern, auch auf dem Schloss Neuschwanstein, wurden die Güter erst gelagert, später verschifft, versteigert und ausgebombten arischen Familien überlassen. Endlose Güterzüge dieses Raubgutes fuhren jahrelang nach Deutschland.

„Nahezu jede ‚ausgebombte‘ Familie saß an einem Tisch, der aus dem Besitz ehemaliger jüdischer Nachbarn stammte oder aus Wohnungen der Juden im besetzten Europa herangeschafft worden war“, schreibt der Politologe Wolfgang Dreßen, der bis Herbst vergangenes Jahres eine Aufsehen erregende Ausstellung im Stadtmuseum Düsseldorf über die Ausplünderung der Juden leitete – Aufsehen erregend deshalb, weil er die Namen der Profiteure nicht schwärzte (geklagt dagegen hat niemand). Schnäppchen machten in Köln etwa das Diakonissenheim, die Musikhochschule, die Ford-Werke und das Städtische Waisenhaus – es kaufte das Mobiliar des jüdischen Kinderheims. Prächtige Möbel sollten für verdiente Frontsoldaten reserviert werden, der Oberbürgermeister von Köln sicherte sich einen Gobelin für 2.000 Reichsmark, Finanzbeamte wohnten in früheren „Judenhäusern“ zu billigsten Mieten. Das arische Bildungsbürgertum achtete dagegen auf Qualität. Begehrt waren die „Judenmöbel“, die ursprünglich verschifft werden sollten und bei der Eroberung Belgiens noch in Antwerpen lagerten: Denn die inländischen Juden waren durch Boykott und Berufsverbote der Dreißigerjahre so verarmt, dass bei ihnen kaum mehr etwas zu holen war.

Die braven Volksgenossen wussten natürlich, an wessen Gut sie sich da bereicherten. Dass die versteigerten Möbel von der jüdischen Familie zwei Straßen weiter stammte, konnte in Dörfern niemandem verheimlicht werden. Selbst in öffentlichen Bekanntmachungen über Versteigerungen stand, dass es sich um Güter aus „nicht arischem Besitz“ handelte. Überliefert ist der Ausspruch eines Raffkes gegenüber einem „Zigeuner“, dessen Wäsche er wollte: „Die kannste mir vermachen, ihr kommt sowieso noch weg!“

Es gab einen Run auf leer stehende Häuser deportierter Juden. Heinrich Heising, Leiter der Dienststelle für die Einziehung von Vermögenswerten im Oberfinanzpräsidium Münster, beklagte sich am 19. November 1941, es habe „ein Sturm auf die freien Wohnungen eingesetzt“. Massen elender Bettelbriefe, in denen eine lange Parteizugehörigkeit, eine große Familie oder eine Kriegsverletzung hervorgehoben wurden, erreichten die Finanzämter. So schrieb etwa der Apotheker Theo Nettesheim aus Köln-Ehrenfeld an seinen Oberfinanzpräsidenten, er wolle ein Einfamilienhaus, „welches als jüdisches Haus ebenfalls in den Besitz des Reiches übergegangen ist“, mieten oder erwerben. Die holprige Begründung: „Ich benötige für meine Familie nunmehr eine größere Wohnung und wäre das Einfamilienhaus Eichendorffstraße 43 besonders geeignet weil es auch in der Nähe der Apotheke gelegen ist.“

Ein größeres Haus zum Spottpreis – wenige konnten dieser Versuchung widerstehen. Aber einige, immerhin, hatten noch so viel Anstand. „Mein Mutter sagte“, so erinnert sich eine Münsteraner Zeitzeugin: „‚Auf dem Unglück anderer Leute wollen wir das nicht!‘“

Die Schnäppchen machten einfache Deutsche zu Komplizen des Regimes, stellten sie nach Bombardements deutscher Städte und dem Verlust vieler Hausstände und Heime ruhig. Manchmal verschnellerte sich die Deportation sogar, da rasch Wohnraum und Möbel hermussten. Das Unrecht konnte leichter verdrängt werden, da Gesetze und Ämter zwischen Ausgeplünderte und Profiteure traten.

Wenige Juden, die die Deportationen überlebt hatten, erhielten ihre Güter zurück. Wer weniger als tausend Reichsmark besessen hatte, bekam gar nichts. Dagegen forderte Paul Faßbender aus Hennef, dem die britische Militärregierung nach 1945 die ehemals jüdischen Küchenmöbel wieder abgenommen hatte, 1958 den Betrag zurück, den er in der Nazizeit bei einer Versteigerung gezahlt hatte. Mit Erfolg. Behörden wanden sich bei Forderungen von Überlebenden oft damit heraus, alle Akten seien vernichtet – viele Prozesse endeten im Vergleich. Im Siegerland votierte ein Dorf samt Presbyterium für einen Verwaltungsbeamten, dem wegen Hilfe bei einer Deportation Haft drohte.

Es waren oft dieselben Finanzbehörden, ja dieselben Beamten, die nach dem Krieg überlebende Deportierte oder ihre Kinder kalt bei ihren Wiedergabe-Forderungen abblitzen ließen. Der Münsteraner Oberregierungsrat Heising etwa wurde nicht entlassen, sondern mit der Restitution beauftragt: Er sollte nun NS-Opfer entschädigen. Die Tatsache, dass er sich in dieser Aufgabe als äußerst unwillig erwies, behinderte seine Karriere nicht. Er wurde 1949 zum Finanzgerichtspräsidenten in Düsseldorf befördert.

Steuerinspektor Krüppel aus Hemmerden sagte nach 1945 in einem Restitutionsprozess vor Gericht zu den Versteigerungen, alles sei „ordnungsgemäß“ gelaufen, die Herkunft des Versteigerungsgutes ihm nicht klar gewesen. In der Hoch-Zeit der „Entjudung“ ab 1938 leitete Walter Kühne die Oberfinanzdirektion Köln. Er wurde später Chef des Bundesausgleichsamtes.

Kurt, der Sohn der Rübstecks aus Hemmerden, hatte – anders als seine Eltern – die Shoah überlebt. Ihr Haus aber war vermietet. Rübsteck stritt mit Krüppel und Günther, die damals die Güter seiner Eltern versteigert hatten und nun wieder für den Staat arbeiteten, um eine Rückgabe des Besitzes und eine Beteiligung an den Mieteinnahmen – bis 1954. Unter Polizeischutz suchte Marianne Stern, ebenfalls aus Hemmerden, drei Monate lang nach dem Krieg das Eigentum ihrer ermordeten Eltern bei arischen Nachbarn. Als sie das Finanzamt um Hilfe bat, kam der alte-neue Steuerinspektor Krüppel schnell mit seinem Rad vorbei. Es hatte ihrem Schwager gehört.

Philipp Gessler, 32, ist seit 1998 Redakteur in der Berlin-Redaktion der taz