Die Kathedrale des Theaters wird gestürmt

Sozialrevolutionäres Pathos, unbedingter Wille zum Neuanfang – all das bietet das neue Leitungsteam der legendären Berliner Schaubühne. Mit der Uraufführung von Sasha Waltz' Choreographie „Körper“ findet heute die Wiedereröffnung statt ■ Von Christiane Kühl

Das beste Bild hat sich das Theater in der Dramaturgie geschaffen. Auf dem Teppich vor dem Sofa. Bauklötze liegen da, viele bunte Bauklötze, bereit, sich in allen möglichen bekannten und unbekannten Formen zusammensetzen zu lassen. Einer, ein präziser und dem Wort zugeneigter Mensch, hat schon mit dem Gestalten begonnen: POLITIK sagt das farbige Holz dort streng aufeinandergestapelt. Und leuchtet.

Dass der Sohn der Choreographin Sasha Waltz und des Kulturmanagers Jochen Sandig einmal in der legendären Schaubühne am Lehniner Platz aufwachsen sollte, war vor drei Jahren, als die beiden damit begannen, die heruntergekommenen Sophiensaele in Berlin-Mitte in ein wunderbares Tanzhaus zu wandeln, keinesfalls absehbar. Zwar tanzte Waltz mit ihrer 1993 gegründeten Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ bereits erfolgreich rund um den Globus, aber dass sie künstlerische Leiterin des berühmtesten deutschen Theaters werden sollte, glaubte sie erst, als sie 1999 den Vertrag unterschrieb. „Und da habe ich Angst gekriegt“, sagt die 36-Jährige: „Zum ersten Mal Angestellte.“

Thomas Ostermeiers Ängste und Unglauben liegen weiter zurück als sein kometenhafter Aufstieg vom Regieschüler zur Personifizierung des „Theater des Jahres 1998“, der Baracke in Berlin. Er gehört zu jener Generation, die im jugendlichen Orwell- und Pershing-II-Rausch glaubte, 1984 würde die Welt untergehen. 2000 war da ein ganz irreales Datum. „Ich dachte, dass ich dann 32 bin und alles zu Ende ist.“ Aber auch für ihn ging 1999 alles auf Anfang. Er war es, dem Jürgen Schitthelm, 1962 Mitbegründer der Berliner Schaubühne und bis heute ihr Direktor, die künstlerische Leitung des Hauses anbot. Ostermeier zögerte nicht. Seinen Dramaturgen Jens Hillje brachte er mit von der Baracke, Sasha Waltz und Jochen Sandig bat er dazu, weil er „einfach die Besten hier haben will. Und Sashas Arbeit fasziniert mich am meisten.“

Wenn die Schaubühne heute Abend zur Uraufführung von Waltz' Choreographie „Körper“ zum ersten Mal unter der Leitung der jungen Viererbande die Türen für das Publikum öffnet, werden die Theateraugen der Republik auf Berlin gerichtet sein. Nicht, dass es da in letzter Zeit sonst nichts zu sehen gegeben hätte: Gerade hat Claus Peymann nach 13 Jahren Publikumsbeschimpfung im Wiener Burgtheater am Berliner Ensemble die Ära Peymann eingeleitet, und auch sonst ist einiges in Bewegung. Doch die Schaubühne ist ein Sonderfall. Nicht allein, weil Peter Stein die Bühne in den 70er- und 80er-Jahren durch seine Verbindung von Intellektualisierung und präziser Sinnlichkeit zum Mythos gemacht hat. Sondern weil mit Waltz, Ostermeier, Hillje und Sandig ein wirklicher Neuanfang gewagt wird. Und nicht wenige ihnen den auch zutrauen.

Unbedingte Zeitgenossenschaft ist ihr Credo. Hier. Heute. Statt Bühne für bemühte Klassikeraktualisierungen zu sein, will ihr Haus am vergessenen Ende des Kurfürstendamms die Bedeutung des Theaters als einem der letzten öffentlichen Orte in einer mehr und mehr entpolitisierten Gesellschaft ausspielen. Während sie petzen, dass den Theatermachern in Deutschland vor lauter kritischer Sozialdemokratie der Auftrag verloren gegangen ist (siehe taz vom 20. 1.), hat die neue Schaubühne den ihren klar definiert: Bewusstwerdung, Bewusstmachung, Repolitisierung. Voller sozialrevolutionärem Pathos wird der „Wunsch nach einem anderen Leben, nach einem Zusammenleben in wirklicher Freiheit jenseits der Werte und Gesetze ökonomischer Effizienz im neoliberalen Kapitalismus“ formuliert. Der künstlerische Weg dorthin wurde unterwegs ausgeleuchtet. Intern liegt er in der Utopie vom Ensemble als Zusammenschluss verantwortlicher Einzelner für das gemeinsame Projekt – die Ensemblemitglieder der Schaubühne haben sich bei Einheitsgagen dazu verpflichtet, zwei Jahre lang keine Angebote von Film oder Fernsehen anzunehmen, und können durch Vetorecht Inszenierungen verhindern – und extern in der Diskussion und Aufführung eines „neuen Realismus“.

Das Formulieren starker Thesen hat etwas Erfrischendes. Allerdings ist es eine Tatsache, dass man mit Eifer allein das Theater nicht neu erfindet. Das Mitbestimmungsmodell hat Peter Stein an der Schaubühne etabliert, und auch die Politisierung des Theaters stand mit Ausrufungszeichen auf dem Spielplan der 70er. Unbestritten ist, dass die alte Schaubühne in ihrer Haltung der feinpsychologischen Figurenausleuchtung in den 90ern erstarrt war; streitbar hingegen die Behauptung, dass allein straighte Stücke zeitgenössischer Autoren das Theater als Ort lebendiger Auseinandersetzung revitalisieren können.

Die Forderung nach Realismus hat die Geschichte des Dramas stets begleitet. Doch so wie die Wirklichkeit viele Erscheinungsformen hat, hat auch ihre künstlerische Verarbeitung diverse adäquate Umsetzungen. Es wäre falsch zu behaupten, die dekonstruktivistischen Inszenierungen an Frank Castorfs Volksbühne hätten mit unserer Wahrnehmung und damit unserem Leben weniger zu tun als etwa die linear erzählte Story eines irischen Pubertätspaares in „Disco Pigs“. Doch um die klar erzählte Geschichte geht es Ostermeier. „Das Theater, zum Ritual eines absterbenden Bürgertums verkommen, hat die Bodenhaftung verloren. Die Leute sollen zu uns wie ins Kino gehen: weil sie das Was, nicht das Wie der Geschichte interessiert.“ Den Direktdraht zur Welt sollen die Autoren Marius von Mayenburg und Roland Schimmelpfennig garantieren, die genau wie Maja Zade, Lektorin vom Londoner Royal Court Theatre, fest ans Haus gebunden wurden. Jedes eingesandte Manuskript, so das Versprechen, wird gelesen. Daneben gibt es Projekte von Regisseuren wie Falk Richter oder dem TAT-Team Kühnel/Schuster, die ihre Stücke mit dem Ensemble selbst erarbeiten. Gleiches gilt für den Tanz, der mit Sasha Waltz erstmals fast gleichwertig an einem deutschen Staatstheater positioniert wird.

In dem durchaus amüsanten medialen Schlagabtausch der letzten Monate zwischen Ostermeier, Peymann und Castorf irritierte die Reduzierung der Konfrontation auf einen Generationenkonflikt. Man wähnte sich zwischen Geriatrie und AStA: Peymann wurde da „zum biologischen Problem“, und Ostermeier spuckte auf „die alten Herren, die noch mal auf ihrem Grabstein tanzen wollen“. Vielleicht muss man so reden, wenn man ein solch gewaltiges Erbe antritt. Als die Schaubühne 1962 gegründet wurde, waren überhaupt erst vier des heutigen 52-köpfigen Teams geboren; als Peter Stein 1970 übernahm, fehlten immer noch 18, und der Rest lernte eben das Sprechen. Die Schaubühne lernten sie als Kathedrale kennen, deren „Hallraum“, so die Hausregisseurin Barbara Frey, „bis in die Schweiz reichte“.

Um das eigene Echo zu hören, wurden als Erstes die distinguierten schwarzen Wandbehänge aus dem Bauhausgebäude am Lehniner Platz gerissen. Nackter Beton umschließt nun die drei Bühnen. „Dieses Haus mit seinen Möglichkeiten – ein Traum von Theater“, schwärmt Sasha Waltz, die trotz monatelanger Proben und Ensembleversammlungen noch immer euphorisiert ist. Tanz, Schauspiel, Theorie und Bewusstsein sollen nun von diesem Ort ins Land getragen werden. Ob sie die Besten für die Schaubühne sind? Thomas Ostermeier lächelt milde und versucht das einzig Richtige: den externen Druck zu ignorieren und die eigene Arbeit ins Zentrum zu setzen. „Andersrum. Die Schaubühne ist das Beste für uns.“ Sollte doch beides zusammenfallen, könnte der Tempel bald wieder leuchten. Hell wie Kino.