Genossen auf Klassenausflug

■ Bei der Klausurtagung der SPD-Fraktion am Wochenende in Dresden war die Stimmung wesentlich lockerer als noch vor einem Jahr. Doch das Führungsvakuum in der Partei ist unübersehbar

Die Quadiga ist zerbrochen. Strieder, Momper, Böger und Fugmann-Heesing sitzen weit voneinander entfernt im Saal

Wo geht’s denn jetzt lang? Für einen kurzen Moment kam die Reisegruppe der SPD-Abgeordneten ins Stocken. Die beiden Leithammel, SPD-Fraktionschef Klaus Wowereit und Parteichef Peter Strieder, wussten einen Moment lang nicht genau, wo es zur Straßenbahn geht. Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung war klar: Nicht geradeaus führt der Weg, sondern rechts an der Kirche vorbei.

Orientierungslos ist die SPD nicht, doch bei der dreitägigen Klausurtagung der SPD-Fraktion in Dresden, die gestern zu Ende ging, war das Führungsvakuum zu spüren.

Die vierköpfige Führungsriege aus der Zeit des Wahlkampfes ist zerfallen. Die Quadriga aus Parteichef Peter Strieder, Spitzenkandidat Walter Momper, dem damaligen Fraktionschef Klaus Böger und der damaligen Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing hat sich atomisiert. Die demonstrative Einigkeit war nur Fassade. Drei Monate nach der Wahl sitzen sie bei der Klausurtagung alle einzeln, weit voneinander entfernt auf ihren Plätzen.

Walter Momper, der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses, kommt erst am Freitagabend an und irrt mit einer Tasse Tee in den Sitzungssaal. Ein wenig abwesend wirkt er, als hätte man ihn auf den falschen Planeten gebeamt.

Die Abgeordnete Annette Fugmann-Heesing wirkt wie eine Fremde inmitten der neuen Fraktion. Mit Leidensmiene sitzt sie in der zweiten Reihe, eine Spur von Traurigkeit kann sie nicht verbergen. Die Enttäuschung darüber, dass die Parteigremien dem Bauressort den Vorrang gaben und sie damit um ihr Amt als Finanzsenatorin brachten, hat sie offenbar noch nicht überwunden.

Am zweiten Klausurtag setzt sie sich in die vorletzte Sitzreihe, weicht ihrem Vertrauten und Berater, dem stellvertretenden Senatssprecher Eduard Heußen, nicht von der Seite. Anstatt auf die Fraktionskollegen zuzugehen, zieht sie sich zurück. Es trifft sie sichtlich, als Strieder bei seinem Ausblick auf die Arbeit der Legislaturperiode betont, dass die SPD mit den Ressorts Bauen, Soziales und Schule die Schlüsselressorts für die soziale Stadtentwicklung hat.

Der dritte aus der Führungsriege, Klaus Böger, sitzt nun als Schulsenator auf dem Podium. Der frühere Fraktionschef hat – anders als seine Amtsvorgängerin Ingrid Stahmer – den Rückhalt der Fraktion. Sie schont ihn, auch als es um das Reizthema längere Arbeitszeiten für Lehrer geht. Sie schützen ihn geradezu vor der Presse. Dass Böger das Thema überhaupt angeschnitten hat, muss man Teilnehmern aus der Nase ziehen. Und doch: Böger steht unter Druck. Jahrelang hat er seine Amtsvorgängerin scharf kritisiert. Die Messlatte für ihn hängt nun umso höher. Böger konzentriert sich auf sein Ressort. Ob er nochmal eine Führungsrolle in der Partei anstrebt, scheint fraglich.

Bleibt also Strieder. Der Senator für Bauen, Verkehr, Stadtentwicklung und Umweltschutz geht vor der Fraktion kurz auf seinen Freiflug in der Firmenmaschine des Unternehmers Dussmann ein. Kritik schlägt ihm kaum entgegen, im Gegenteil, viele Genossen bagatellisieren den Vorgang. Sie üben sich in Solidarität – das hat Seltenheitswert. Doch eine anerkannte Führungsfigur ist auch Strieder nicht. Er wird sich in seinem Großressort und als Parteichef beweisen müssen. Dem Senator, der stets medienwirksam zu agieren weiß, fehlt es noch an Substanz. Zudem begegnet die Berliner SPD ihrem Führungspersonal stets mit einer überdurchschnittlichen Portion Misstrauen. Einen mächtigen Parteichef will niemand. Derzeit gibt es nur einen einzigen Genossen, der sich zur ernst zu nehmenden Konkurrenz für Strieder entwickeln und ihm die Spitzenkandidatur streitig machen könnte: Der neue Fraktionschef Klaus Wowereit. Die Fraktionsklausur ist sein Debüt. Schon bei der Vorbereitung hat der Chef Sorgfalt walten lassen und das Hotel höchstpersönlich inspiziert. Harmonisch soll es zugehen. Zwar werden bei Klausurtagungen auch politische Entscheidungen vorbereitet, aber genauso wichtig ist die gruppendynamische Komponente. Die Fraktion aus alten und neuen Abgeordneten soll zusammenwachsen.

Sehr viel entspannter als im Vorjahr ist die Atmosphäre. Damals warb der frisch gekürte Spitzenkandidat Walter Momper um das Vertrauen der Fraktion, die bei der vorhergegangenen Urwahl geschlossen hinter Klaus Böger gestanden hatte. Aber die aufgelockerte Stimmung geht zu einem großen Teil auch auf das Konto des neuen Fraktionschefs. Klaus Wowereit ist nur acht Jahre jünger als Klaus Böger, doch gehört er einer anderen Generation an. Wowereit ist kommunikativ und locker im Umgang, selbst im Präsidium bricht er auch mal in schallendes Gelächter aus. Wowereit hat einen schärferen Blick für die Zeichen der Zukunft. So berichten die von ihm geladenen Referenten von der dramatischen Umwälzung, die das Internet für die Wirtschaft bedeutet. Die Vorträge werden zum reality check für die Abgeordneten. Der Altersdurchschnitt in der Fraktion liegt bei 48,9 Jahren. „Kannst du mit Computern umgehen?“ fragt ein ergrauter SPD-Abgeordneter seinen Fraktionskollegen. Das „Ja“ kommt zögernd und überzeugend klingt es auch nicht.

Die Botschaft der Referenten lautet: Die Welt da draußen, außerhalb der Käseglocke des Parlaments, verändert sich rasant. Das Internet wird zur treibenden Kraft des Strukturwandels. Politik und Verwaltung können kaum Schritt halten. Bis eine junge Internet-Firma endlich die Baugenehmigung für den Ausbau ihrer Büroetage hat, hat sie längst den Anschluss verpasst. Bausenator Strieder macht sich eine Notiz.

Doch bei aller Zukunftszugewandtheit ist spürbar, dass auch Wowereit in seine Aufgabe noch hineinwachsen muss. Das wird auch in der Fraktion so gesehen, aber mit der Zuversicht, dass ihm dies gelingt. Ein langjähriger Abgeordneter sagt: „Der Wowereit, der hat doch Zeit.“ Im Klartext: Der kann auch noch später Spitzenkandidat werden.

Dorothee Winden