„Es gibt keine Parteilichkeit“

Schweren Herzens beantragt die DLV-Spitze eine Sperre für Dieter Baumann, die Belastungsprobe für das Anti-Doping-System geht in die nächste Runde ■ Aus Darmstadt Matthias Kittmann

Auf der Pressemappe des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) läuft Dieter Baumann noch mit Volldampf durchs Bild. „Das wird auch so bleiben“, sagt DLV-Präsident Helmut Digel, „solange er nicht überführt ist.“ Das sagte Digel, nachdem er selbst den unscheinbaren, aber folgenschweren Satz vorgelesen hatte: „Das Präsidium ist dem Bericht der Anti-Doping-Kommission gefolgt und hat einen Tatverdacht festgestellt.“ Woraus die Beantragung einer zweijährigen Sperre beim Rechtsauschuss des DLV folgt. Baumanns Suspendierung bis zum Ende des Verfahrens bleibt bestehen. Aus dem bisweilen bizarr anmutenden „Zahnpastagate“ der deutschen Leichtathletik ist der „Fall Baumann“ geworden. Offiziell. Längst jedoch werden Fakten und Vermutungen munter miteinander vermengt. Versuchen wir, die Sache aufzudröseln:

Tatsache 1: Der Langstreckenläufer Dieter Baumann ist einer der populärsten Leichtathleten der vergangenen zehn Jahre in Deutschland, Olympiasieger über 5.000 Meter in Barcelona 1992 und erklärter Anti-Doping-Kämpfer unter den Aktiven.

Tatsache 2: Am 19. Oktober und am 12. November 1999 werden bei Dieter Baumann in Tübingen Dopingproben entnommen, die sich als positiv herausstellen, auch bei der Öffnung der B-Proben Mitte Dezember. Der erlaubte Grenzwert von Nandrolon wurde um das Zehnfache überschritten.

Tatsache 3: Am 29. November 1999 wird bei Baumann eine Zahnpastatube gefunden, die Norandrostendion enthält, ein theoretischer Verursacher von Nandrolon.

Tatsache 4: Dieter Baumann stellt am 2. Dezember 1999 bei der Staatsanwaltschaft Tübingen Strafanzeige gegen unbekannt wegen Körperverletzung.

So weit, so knapp.

Spätestens ab dem 29. November beginnen Spekulationen, Kampagnen, Gerüchte, Mutmaßungen, Glaubensbekenntnisse. Von dieser Melange bleibt keiner unbeeinflusst. Selbst Verbandspräsident Helmut Digel nicht, der sich noch am Samstagnachmittag, 16.03 Uhr, die Aussage abringt, auch in diesem besonderen Fall – Baumann gilt seit langem als Freund von Digel – hätte er objektiv und auch aus Fairness gegenüber anderen Athleten für eine offizielle Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch den Rechtsausschuss des DLV entscheiden müssen: „Es gibt keine Parteilichkeit.“ Doch nur wenige Stunden später sagt er im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF: „Ich kann verstehen, dass Dieter Baumann, der sich für unschuldig hält, alle juristischen und sonstigen Mittel ausschöpft.“

„Für unschuldig hält“? Das hieße, dass es nur noch um die Beweise für Baumanns Unschuld geht. Streng genommen behauptet Baumann seine Unschuld nur, nicht mehr und nicht weniger. Wie kein anderer deutscher Athlet kann Baumann eine Glaubwürdigkeitsoffensive ohnegleichen starten und Platz in den Medien für sich beanspruchen. Entgegen seiner üblichen Lauftaktik gibt er schon zu Anfang des Rennens Gas. Ungezählt seine Interviews der vergangenen drei Monate, ungezählt die Texte, Sendungen und Kommentare. Baumann erstattet Anzeige, Baumann lobt 100.000 Mark Belohnung zur Klärung des Dopingskandals aus, Baumanns Anwalt Michael Lehner droht dem DLV mit einer Schadenersatzklage, falls er weiter suspendiert bleibt oder gesperrt wird.

Baumann rennt.

Verschwörungstheorien zirkulieren, dass einem schwindelig wird – Konkurrenten-Neid, Ex-DDR-Komplott, eine Verschwörung von Dopern, die den unbequemen Baumann loswerden wollen. Nur CIA und übrig gebliebene Reste des KGB fehlen noch. Und natürlich: Es könnte auch Baumann beziehungsweise sein Umfeld gewesen sein, zur Vertuschung anderer leistungsfördernder Maßnahmen etwa.

Was macht der DLV? Nach dem ersten Schock tut er das, was er nach seinen eigenen Regeln tun muss. Überprüfung der Dopingproben, entscheiden, ob ein Verdacht besteht und wenn ja, weiterleiten an den Rechtsausschuss des Verbandes, der juristisch über eine Schuld und somit Sperre endgültig entscheiden wird. Soweit der Normalfall. Clemens Prokop, Rechtswart und Vizepräsident des DLV sagt in der Juristen oft eigenen lapidaren Art: „Dopingfälle laufen nach einem festen Schema ab.“ Wird ein Athlet positiv getestet, behauptet er seine Unschuld. Es könne sich dabei nur um einen Fehler des Labors oder um eine Fremdmanipulation handeln. Zudem sei er schon immer gegen Doping gewesen und werde es auch immer sein. Und drittens: Für den Fall, dass der Verband ihn trotzdem suspendiert, stellt er eine Schadenersatzklage in Aussicht.

So gesehen läuft der Fall Baumann nach Schema F.

Doch seine Prominenz hat eine vielschichtige Debatte ausgelöst, die nur vordergründig juristische Haarspalterei ist. Es geht um das gesamte Anti-Doping-System des deutschen Sports.

Punkt 1: Erstmals wird nennenswert über die so genannte Beweislast-Umkehr im Sport diskutiert. Anders als im Strafrecht, wo ohne schlüssige Indizien der Leitsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ gilt, muss ein positiv getesteter Sportler beweisen, dass die verbotene Substanz ohne sein Wissen und gegen seinen Willen in seinen Körper gelangt ist. Er müsste also ein Attentat Dritter nachweisen oder zumindest so viele Indizien vorlegen, dass daran nicht zu zweifeln ist. Nicht einfach, aber bei einem Alkoholsünder, der mit 0,9 Promille erwischt wird, gilt das gleiche. Wäre es bei Sportlern anders, könnte man Doping freigeben. Baumann will dies sicher nicht, aber mit der Anerkennung bislang nur dürftiger Indizien für eine Fremdmanipulation beansprucht er zumindest eine Sonderbehandlung.

Punkt 2: Mit der Drohung einer Schadenersatzklage sind die Sportverbände überfordert. Zwar ist dies zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht möglich, so Clemens Prokop, weil die Athleten in der Anti-Doping-Vereinbarung unterschrieben haben, dass sie sich dem Verbandsverfahren gegebenenfalls stellen, zudem das offizielle Verfahren mit den Ermittlungen des Rechtsausschusses ja gerade erst begonnen hat und als letzte Instanz das Schiedsgericht, einberufen durch den Deutschen Sport-Bund (DSB), noch aussteht. Spätestens dann kann eine Klage drohen, die einen jeweiligen Verband in den Konkurs führen könnte. Schon jetzt wird den DLV der Fall Baumann eine sechsstellige Summe kosten.

Nicht umsonst wird mit dem Innenministerium die Etablierung einer nationalen Anti-Doping-Agentur diskutiert, von der nicht nur alle Anti-Doping-Maßnahmen zentral gesteuert werden, sondern in die auch alle einen Beitrag einzahlen, um auf Schadenersatzforderungen reagieren zu können.

Wer aber hat nun mit welcher Absicht das übel schmeckende Zeug in die Zahnpastatube hineinpraktiziert? In dieser Beziehung gleichen sich Nandrolon- und Parteispendenaffäre: Die entscheidenden Personen reden (noch) nicht. Der Unterschied: Das Parteiensystem wird bleiben, das bisherige Anti-Doping-System könnte, ohne Baumanns erklärte Absicht, zu Fall gebracht werden.