„Wir waren nie Terroristen“

Der Krieg zwischen Islamischer Heilsfront und dem algerischen Staat ist beendet. Nun warten die islamistischen Kämpfer auf ihre Rückkehr nach Hause ■ Aus Chlef Reiner Wandler

„Wenn es um dieZukunft Algeriens geht, dann machen wir ab sofort, was uns der Staat sagt“

Das ist ein Sieg für uns und das algerische Volk“, sagt Ahmad Benaischa mit ruhiger, überlegter Stimme. Der 46-jährige Mann in langem Gewand, grünem Parka und Strickmütze nennt sich stolz „Amir“ – Chef – der Islamischen Armee des Heils (AIS) im Westen Algeriens. Vor zehn Tagen wurden er und seine Männer von Präsident Abdelasis Bouteflika begnadigt. „Wir warten nur noch darauf, dass wir Papiere ausgestellt bekommen, dann lösen wir uns auf“, sagt der regionale Anführer des bewaffneten Armes der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS). Noch tragen Benaischa und seine 700 Mann ihre Kalaschnikows zur Schau. Doch schon bald werden sie, und mit ihnen über 3.000 Gesinnungsgenossen überall im Land, zu ihren Familien zurückkehren. Für sie ist der Krieg gegen den Staat beendet.

Ein Kontakt in einem Vorort von Chlef, 210 Kilometer westlich der Hauptstadt Algier, eine kurze Autofahrt zu einem Geschäft in einer übervölkerten Wohnblocksiedlung aus den 70er-Jahren, ein Mann Mitte dreißig im Trainingsanzug steigt zu und weist den Weg nach Norden. „Keine Angst, dort im AIS-Camp seit ihr sicherer als hier draußen“, meint er lächelnd. Die letzten Häuser der 500.000-Einwohner-Stadt sind noch nicht aus dem Rückspiegel verschwunden, schon geht es links in eine von Eukalyptusbäumen gesäumte Allee. Eine kurze Handbewegung – „Immer geradeaus!“ – der Begleiter steigt aus und schlendert langsam Richtung Stadt davon.

Weiter geht es durch die Schlaglöcher. Plötzlich tauchen sie auf: bärtig, ungekämmtes Haar, lange Gewänder, Militärjacken, die Maschinengewehre sorglos geschultert. „Rechts ran“, lautet ein kurze Befehl. Die Identität der Besucher wird erfragt. Zwei Männer verschwinden auf einem Mofa, dort wo der Weg eine leichte Biegung macht. Unerträgliche Minuten des Wartens, dann taucht er auf, der Mann, dessen Foto in den letzten Tagen öfter die Titelblätter der algerischen Zeitungen zierte als das des Präsidenten: Amir Ahmed Benaischa. Vier seiner Männer begleiten ihn.

Nach freundlicher Begrüßung lädt er zum Gespräch. Die fünf setzen sich im Halbkreis ins Gras. Benaischa in der Mitte. Der Mann mit gepflegtem Bart wirkt ruhig und besonnen. Würde er sich nicht auf eine Maschinenpistole stützen, nichts an ihm ließe ahnen, dass er einst zu den meistgesuchten Männern Algeriens zählte. Die Orangenbäume verströmen ein angenehmes Aroma.

Eine perfekte Idylle, wäre da nicht der Militärhubschrauber, der in einiger Entfernung unermüdlich seine Runden dreht. Die tödliche Fracht an den beiden Auslegern ist für Ziele in den benachbarten Bergketten bestimmt. Seit Ablauf des Gesetzes zur Nationalen Eintracht am 13. Januar, das denjenigen bewaffneten Islamisten, die sich den Behörden stellten, eine milde Behandlung versprach, startet er immer wieder vom Militärflughafen in Muafkia, dem kleinen Dorf etwas außerhalb von Chlef, aus dem Benaischa stammt. Die Kriegsmaschine unterstützt die Bodentruppen der Armee, die langsam, aber sicher in das unwegsame Gelände nordwestlich von Chlef vorrücken, um den versprengten Resten der radikaleren Islamischen Bewaffneten Gruppen (GIA) nachzustellen.

Seit Oktober 1997 haben Benaischas Männer von der Armee nichts mehr zu befürchten. Die AIS halt einen Waffenstillstand ein. „Um dem Frieden zuliebe diejenigen zu isolieren, die gegen die Zivilbevölkerung vorgehen“, ergreift Benaischa das Wort. Im Gegenzug hat die AIS mit den Generälen die Rückkehr ins normale Leben ausgehandelt.

„Wir haben uns nur gegen die Unterdrückung verteidigt“, präsentiert sich Benaischa als Politiker, der von den Umständen in den Untergrund gedrängt wurde. Seine Offiziere nicken wohlwollend. Das Reden überlassen sie ihrem Chef. 1989 schloss sich Benaischa der soeben entstandenen FIS an. Schnell wurde er zu deren örtlichem Verantwortlichen. Morgens ging er seiner Arbeit in einem Gymnasium als Biologielehrer nach, mittags und vor allem Freitags predigte er in einer Moschee gegen das „ungläubige und korrupte System“. Die Parolen hatten Erfolg in Chlef, einer armen Stadt, die sich von den Folgen eines schweren Erdbebens im Jahr 1980 nie wieder richtig erholt hat. Im Dezember 1991 wurde Benaischa im ersten Wahlgang ins algerische Parlament gewählt. Die FIS gewann auch sonst im Land. Die Armee brach die Wahlen ab.

„Ich bin sofort untergetaucht“, erzählt der Amir. Anders als 35.000 seiner Gesinnungsgenossen entging er damit der Deportierung in die Gefangenenlager in der Sahara, im Süden des Landes. „Wir begannen sofort mit dem Aufbau einer bewaffneten Organisation“, erinnert er sich. Mitte 1993 schloss sich Benaischas Gruppe mit anderen im algerischen Osten unter Führung des heutigen nationalen Amirs Madani Mezrag zur AIS zusammen.

„Wir haben das Gebiet hier seit 1992 nie verlassen“, sagt Benaischa. Ein paar Kilometer weiter endet die fruchtbare Hochebene im Atlas. Dunkel erheben sich die Berge. Ein ideales Gelände für die Guerillas. Die verstreuten Baracken zwischen den Plantagen dienten als Ausgangsbasis. Die örtliche Bevölkerung war den Rebellen wohlgesonnen. Manche von ihnen kamen mit der ganzen Familie hierher, wie die barfüßigen Kinder, die sich neugierig auf der staubigen Allee versammeln, beweisen.

„Wir begannen mit Jagdgewehren“, sagt Benaischa. Die Kalaschnikows, die die Männer heute tragen, haben sie bei ihren Überfällen auf Armee, Gendarmerie und Polizei erbeutet. Über 300 AISler verloren alleine in Chlef im Glaubenskrieg ihr Leben.

Wie viele es auf der anderen Seite waren, das will ihr Chef nicht wissen. „Die Truppe, die meist aus Akademikern besteht“, wie der Chef-Mudschahid nicht ohne Stolz anmerkt, hat ihr Handwerk von „Onkel Ali“ gelernt. „Er hat schon im ersten Krieg gekämpft“, stellt Benaischa den 76-jährigen Alten mit grauem Haar und wallendem weißen Bart neben sich vor. Gemeint ist der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich in den Jahren 1954 bis 1962.

„Die Armee hat uns eine Öffnung versprochen“, träumt Benaischa von einer Rückkehr ins politische Leben. Ob mit einer wieder zugelassenen FIS oder einer neuen Formation, das sei nicht wichtig. „Wir wollen zuerst einmal eine allgemeine Amnestie für die Inhaftierten“, sagt er. Selbstverständlich sei er Demokrat und als solcher für politische Freiheiten für alle. Um das zu unterstreichen, vermeidet er im Gespräch religiöse Parolen, wo immer das geht. „Wir wollen niemandem etwas aufzwingen, aber die Minderheit muss die Entscheidung der Mehrheit respektieren.“ Auch um ein Beispiel ist er nicht verlegen. „Ist das Rauchverbot an öffentlichen Orten in Europa etwa undemokratisch?“ will er wissen und verteidigt damit die islamistischen Patrouillen, die einst an Algeriens Stränden die Geschlechter wenn nötig auch gewaltsam trennten. „Was die Mehrheit beschließt, das ist Gesetz. Und wer gegen ein Gesetz verstößt, muss mit Strafe rechnen“, schließt der derzeit noch bewaffnete Islamist das Thema ab.

„Wir waren nie Terroristen. Wir sind vielmehr selbst Opfer des Terrorismus“, sagt Benaischa, betont leise und bestimmt. Terrorismus sei, wenn jemand versuche, im Rahmen der Demokratie mit Gewalt an die Macht zu kommen. „Genau das haben die Militärs getan, als sie die Wahlen abbrachen“, erklärt der Amir. Und selbstverständlich zählt er auch die Massaker der GIA unter den Begriff des Terrors, denn „wer das Volk angreift, der hat bereits verloren“. Falls, wie das Abkommen zwischen der AIS und den Generälen vorsieht, ein Teil von Benaischas Mudschaheddin in die Spezialeinheiten der Armee eingegliedert werden, um die GIA zu verfolgen, dann wäre der Amir mit dabei. „Im Interesse Algeriens und des Islams. Bisher wurde von staatlicher Seite dieser Punkt nicht aufgegriffen“, sagt er in einem Ton, als würde er dies bedauern.

Was die Machtübernahme der Militärs angeht, teilen die meisten in Chlef Benaischas Ansicht, schließlich haben sie einst FIS gewählt. Seine Methoden heißen sie dennoch nicht für gut. „Seit die AIS den Waffenstillstand ausrief, können wir wieder ruhig schlafen“ und „Benaischa war der Schlimmste von allen“, lauten die Kommentare. AIS oder GIA, viele wollen nicht unterscheiden. Sie wissen nur eines: So lange Benaischas Truppen aktiv waren, überzogen die bewaffneten Islamisten die Region nicht nur mit gezielten Attentaten auf Polizeibeamte und Soldaten. Sie brannten auch Schulen nieder, sprengten immer wieder die Zugstrecke von Algier nach Oran und machten die parallel dazu verlaufende Nationalstraße unsicher. Des Öfteren explodierten Bomben an viel frequentierten Bushaltestellen. Die Einschüchterungskampagne sorgte dafür, dass die Leute nach 16 Uhr ihre Wohnungen nicht mehr verließen und die Frauen ohne Ausnahme den Schleier anlegten.

„Wir warten nur nochdarauf, dass wir Papiereausgestellt bekommen, dann lösen wir uns auf“

„Wären wir nicht gewesen, hätte die AIS nie einen Waffenstillstand ausgerufen“, ist sich Mohammad Bunagha sicher. Im Zivilleben ist der Mann Gemeindearbeiter. Doch das liegt lange zurück. Jetzt befehligt er eine Gruppe von Patrioten, eine von der algerischen Armee ausgerüstete Bürgerwehr.

Auch Bunagha hat einen ehemaligen Kämpfer aus dem Befreiungskrieg als Ratgeber. Tage- und nächtelang harren die Patrioten auf einem kahlen Bergrücken nahe Chlef aus. Vier Container, eine Feuerstelle und eine von Wind und Wetter zerschlissene algerische Fahne auf einem hohen Mast nennen die mit Kalaschnikows bewaffneten Männer „unsere Kaserne“. Mehrere hundert Meter entfernt weht eine weitere Fahne. Eine Kette aus Posten überwacht die gesamte Region. Links unten im Nebel liegen Benaischas Orangenhaine, rechts unten sein Geburtsort Muafkia und der Militärflughafen.

„Jetzt ist es ruhig, aber früher hatten wir ständig Gefechte mit der AIS“, erklärt Bunagha unter den wachenden Augen eines Armeeoffiziers, der auf einer Zigarette kaut. Der Patriot schätzt die Zahl der Toten in Chlef auf über 10.000. Wie viele Zivilisten und wie viele Uniformierte, möchte er nicht sagen. „Endlich haben wir die Möglichkeit, wieder ein Volk zu werden“, zeigt sich Bunagha mit der Amnestie für seine ehemaligen Feinde einverstanden.

Die Umstehenden stimmen ihm zu. Auch die Idee, Benaischa schon bald als Lehrer seiner Kinder wiederfinden zu können, stört ihn nicht: „Mich interessiert nur, ob sie in der Schule etwas lernen.“ Und mit Benaischas Truppe gemeinsam gegen die GIA vorzugehen? „Wenn es um die Zukunft Algeriens geht, dann machen wir ab sofort, was uns der Staat sagt.“ Und zum Abschied fügt Bunagha hinzu: „Ich weiß nur eines: Die Auflösung der AIS ist ein Sieg für uns und das algerische Volk.“