Das Bauernopfer der CDU

■ Ex-Parteichef Helmut Kohl zweifelt in Bremen an der moralischen Integrität alter Freunde und will sich von 4.000 Anhängern feiern lassen. Die neue Führung hat ihn abgeschrieben – auch wenn sie jahrelang an seinem Rockzipfel hing

Blass und angespannt sitzt Angela Merkel in diesen Tagen vor den Kameras, fahrig und erschöpft wirkt Wolfgang Schäuble. Helmut Kohl aber ist ganz der Alte. „Bräsig“ haben seine Gegner ihn jahrelang genannt, „standfest“ seine Freunde. So einer geht nicht nach Canossa: nicht auf einen Weg, mit dem im geflügelten Wort fälschlich die tiefste Demütigung bezeichnet wird und der doch damals in Wahrheit ein politischer Sieg von hoher taktischer Finesse gewesen ist. Zum dem einen ist Kohl nicht bereit, für das andere gebricht es ihm inzwischen an Möglichkeiten.

„Ich habe die Wahlen nicht gestohlen und nicht gekauft“, sagt Kohl. Ganz still ist es im Raum. Er habe versucht, sich „treu zu bleiben.“ Und: „Ich habe den Spendern mein Wort gegeben, dass ich aus Gründen, die ich akzeptiere, ihre Namen nicht nenne. Und ich halte dieses gegebene Wort. Das ist für mich sehr wichtig.“

„Regelrecht gefeiert“ worden sei der Altkanzler auf dem Neujahrsempfang der Bremer CDU, melden die Nachrichtenagenturen. Einen „begeisterten Empfang“ hätten ihm die mehr als 4.000 Gäste bereitet. Der Auftritt sei für ihn ein „Heimspiel“ gewesen. Na ja. Wie man’s nimmt. Was haben einige Beobachter denn erwartet? Dass das saturierte Bürgertum der alten Hansestadt, ins kleine Schwarze und in den besten Anzug gehüllt, zu Trillerpfeifen und Tomaten greifen werde?

Es ist schon wahr, Helmut Kohl bekommt in Bremen Beifall. Gelegentlich freundlichen Applaus, manchmal herzlichen und ein- oder zweimal während seiner Rede sogar stürmischen. Aber die Art der Huldigung, an die er jahrzehntelang gewöhnt gewesen ist, wird ihm auch hier versagt. Ende der Ansprache, das Publikum klatscht, der Redner geht ab. So weit, so gut. Dann erklimmt der Altkanzler ein zweites Mal das Podium, verbeugt sich lächelnd und erkennbar gerührt. Da verstummt der Beifall schnell. So war es nicht gemeint. Ein wenig Trost und Solidarität durfte er erwarten, und die hat er bekommen.

Aber keine Ovationen. Bloß keine Ovationen.

Schon mehr als eine Stunde vor Ankunft des Ehrengasts sind die Festsäle im noblen Park-Hotel brechend voll. Viel Zeit für Gespräche bei einem trockenen Glas Wein: „Auf 32 Prozent abgestürzt, das muss man sich mal vorstellen.“ – „Da kommt auch noch mehr.“ – „Wo sind die Millionen denn geblieben? Auf Raststätten an der Autobahn?“ – „Barspenden, ich bitte Sie! Das weiß man doch, dass das nicht sauber ist.“

Die deutsche Öffentlichkeit hat sich darauf geeinigt, dass Helmut Kohl der Schurke in dem Trauerspiel ist, das seit Wochen aufgeführt und über dem sich der Vorhang noch lange nicht senken wird. Selbst in Kohls pfälzischer Heimat sprechen sich in einer Umfrage nur noch 23 Prozent der Bevölkerung dafür aus, dass der Altkanzler sein Bundestagsmandat behält. So viel Übereinstimmung ist selten. Sie wirft Fragen auf. Wem nutzt die Empörung? Wem gilt sie?

Die hessische CDU hat sich auf ihrem kleinen Parteitag am Wochenende geschlossen hinter ihren Ministerpräsidenten Roland Koch gestellt. Dem ehemaligen Forschungsminister Heinz Riesenhuber zufolge ist er auf der Veranstaltung kein einziges Mal kritisiert worden. Wie schön für ihn. Wie unbegreiflich. „Warum eigentlich sollte man Roland Koch vertrauen, dem zögerlichen Aufklärer der letzten Wochen, dem es jetzt mit den Konsequenzen für andere gar nicht schnell genug gehen kann?“, fragt Die Zeit berechtigterweise. „Ist es glaubhaft, dass Koch vor zwei Jahren den Vorsitz übernahm, ohne dass ihn sein Vorgänger in die opulenten Vermögensverhältnisse des Landesverbandes einweihte?“

Wenn man der CDU-Führungsspitze glauben will, war das allerdings innerhalb der Partei üblich. Niemals soll irgendjemand etwas erzählt, niemals irgendjemand nach etwas gefragt haben. „Haltet den Dieb!“, schallt es immer lauter aus den Gremien. Aber allmählich fällt auf, dass nur diejenigen gemeint sind, die ihre politische Zukunft hinter sich haben. Manfred Kanther, Walther Leisler Kiep und nun eben auch Helmut Kohl.

Gegen den will sein Nachfolger Wolfgang Schäuble jetzt vielleicht zivilrechtlich vorgehen. Das ist die Ebene, auf der Schäuble in diesen Wochen Politik denkt: aus der Perspektive eines Buchhalters oder eines Winkeladvokaten. Nicht einmal Schadenersatzforderungen schließt er aus. Entsetzter Widerspruch von Angela Merkel. Wieder einmal springt die Generalsekretärin in die Bresche und fordert, man müsse die politische Diskussion von rechtlichen Schritten trennen. Sie hätte ja so recht.

Aber was heißt in diesem Zusammenhang „trennen“? Wo wird denn in der Union derzeit eine politische Diskussion über das Thema Spendenaffäre geführt?

Helmut Kohl hat das System nicht erfunden, das ihn groß gemacht hat und in dessen Abgründe wir seit Wochen blicken. Dieser Satz ist nicht als Versuch einer Rechtfertigung des Altkanzlers zu verstehen. Er hat die CDU 25 Jahre geführt und geprägt und bliebe deshalb auch dann der Hauptverantwortliche für den Finanzskandal, wenn er persönlich niemals einen Geldschein in die Hand genommen hätte. Aber einmal unterstellt, er wäre heute noch Bundeskanzler: Hätte er wirklich zurücktreten müssen? Hätte der Skandal dieselbe Dimension angenommen wie jetzt und wäre die Öffentlichkeit sich in ihrem Urteil gleichermaßen einig gewesen? Das Ausmaß eines Skandals hat immer auch mit Macht zu tun – und mit deren Verlust.

Skandale hat es in der Bundesrepublik auch früher schon gegeben, ebenso wie staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und journalistische Enthüllungen. Die Spiegel-Affäre. Lockheed. Starfighter. Barschel. Manchmal ist jemand zurückgetreten, gelegentlich auch, wie Franz Josef Strauß, wiedergekommen. Einige Leute haben ein paar Steine geworfen, auch damals schon zuweilen aus dem Glashaus, und das war’s dann. Bis jetzt.

Dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. Der CDU läuft die Angelegenheit vollständig aus dem Ruder. So sehr, dass einige parteipolitische Gegner schon zur Milde mahnen. Woran liegt das? Warum macht ein so kluger Mann wie Schäuble eine derart klägliche Figur? Warum gibt es dennoch weit und breit niemanden, der ihn ersetzen könnte? Das hat nicht allein damit zu tun, dass Helmut Kohl zu seiner Zeit niemanden neben oder gegen sich groß werden ließ. Der Versuch, Geschichte mit Hilfe der Dämonisierung einer einzelnen Person zu beschreiben, ist selten überzeugend.

Kohl ist so lange an der Macht gewesen, dass der Bruch zwischen ihm und seiner Partei noch immer wie der Sturz eines Herrschers wirkt. Dabei ist er inzwischen zum Bauernopfer geworden. „Manche konnten sich in den vielen Jahren nicht in der Nähe genug aufhalten, und manche haben nun Probleme, auch nur ,Guten Tag‘ zu sagen“, sagt der Altkanzler in Bremen.

Über wen wird in diesen Tagen geurteilt? Und warum jetzt? Das Argument, die Staatsanwaltschaft habe erst jetzt ihre Ermittlungen abgeschlossen und die Recherchen der Journalisten erlaubten keine Vertuschung mehr, trägt nicht weit. Seit Jahren hat es immer wieder Meldungen und Gerüchte über unsaubere Finanzgeschäfte gegeben. Solange Kohl im Kanzleramt saß, blieben sie in den Randspalten der Zeitungen hängen. Ein Kartell des Schweigens braucht die Macht, soll es Bestand haben.

Der Haftbefehl gegen den in der Union wohlbekannten Karlheinz Schreiber besteht seit dem 5. Mai 1997, der gegen Holger Pfahls, ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium, seit dem 22. April 1999. Dennoch will sich danach niemand veranlasst gesehen haben, Fragen zu stellen. Schäuble hat sich eigenen Einlassungen zufolge damit begnügt, sich von der damaligen Schatzmeisterin Brigitte Baumeister bestätigen zu lassen, er habe die Spende von Schreiber ordnungsgemäß abgeliefert. Helmut Kohl sagt in Bremen: „Wenn ich sehe, wer jetzt alles auftritt mit der Attitüde der moralischen Vollkommenheit, dann habe ich an manchen Tagen schon ein Problem, das zu ertragen.“ Da lacht das Publikum verständnisvoll.

Niemand wird so mächtig, wie Helmut Kohl es am Ende seiner Amtszeit gewesen ist, ohne dass diese Macht auch strukturell im Interesse von Gruppen und Organisationen liegt, die ihrerseits innerhalb des Staatswesens über großen Einfluss verfügen. Das allerdings wird bisher im Zusammenhang mit der Spendenaffäre kaum je thematisiert, weder innerhalb der CDU noch seitens ihrer Gegner.

Jahrzehntelang galt der Erhalt der Macht um ihrer selbst willen den Mitgliedern und Anhängern der Unionsparteien nicht als verächtlich, sondern als legitim. Alle Mittel waren recht, wenn es galt, den Sozialismus abzuwehren.

Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks dürfen sich die Konservativen als Sieger der Geschichte fühlen. Der schmückende Titel des „Kanzlers der Einheit“ weist über die deutsche Vereinigung hinaus. Deutschland ist eine bürgerliche Gesellschaft geblieben. Und nun? Die einigende Klammer, die in der CDU jahrzehntelang ganz unterschiedliche Milieus zusammenschweißte, ist zerbrochen. Aber die Sehnsucht danach besteht bei ihren Anhängern weiter.

Helmut Kohl weiß das, und er versteht den alten Reflex noch immer klug zu nutzen. An keiner anderen Stelle seiner Rede erntet der Altbundeskanzler in Bremen so stürmischen Applaus wie mit seiner Forderung, wenn die CDU ihre Finanzen offen legen solle, „dann bin ich dafür, dass die Sozialdemokratie offen legt, dass die PDS offen legt“. Kohl verfügt noch immer über die Fähigkeit, den eigenen Leuten eine Richtung vorzugeben. Right or wrong, my country. Das muss man nicht mögen. Aber es wirkt.

Die Stärke von Helmut Kohl ist zugleich seine Schwäche. Was in einer Situation als Standfestigkeit erscheint, wirkt in der anderen als Starrsinn. Jahrelang hat sein Kronprinz Schäuble, dessen Natur so ganz anders geartet ist, das auffangen können. Seine Talente ergänzen ebenso wie seine Fehler diejenigen von Kohl. Wenn Schäuble manchmal wägend und differenziert erscheint, wirkt er bei anderer Gelegenheit zaudernd und orientierungslos. Erst in diesen Wochen erweist sich, dass das Verhältnis zwischen Kohl und seinem Nachfolger als Parteichef ein symbiotisches gewesen ist. Ohne einander vermögen beide nur wenig. Das lässt sich wohl leichter für den ertragen, der in der Beziehung stets oben gestanden hat. Welchen Anteil hat der Wunsch nach Emanzipation vom Übervater am Verhalten von Wolfgang Schäuble?

Die Spender seien „respektable Bürger unseres Landes“, behauptet Helmut Kohl. „Es gibt diese Spender. Das sind keine Erfindungen von mir.“ Daran glauben inzwischen immer weniger. Wenn es diese Spender aber nicht geben sollte: Meint Schäuble es dann wirklich ernst, wenn er fordert, Kohl solle alles in seinen Kräften Stehende zur Aufklärung tun? Die CDU wäre am Ende, wenn herauskäme, dass die Regierung Kohl sich tatsächlich hat schmieren lassen. Die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, informiert zu werden. Aber will uns ausgerechnet der Vorsitzende der CDU glauben machen, er nehme diesen Anspruch so ernst, dass er bereit ist, dafür zum Totengräber seiner Partei zu werden?

Bei Lichte betrachtet erscheint Wolfgang Schäubles Verhalten nicht weniger irrational als das von Helmut Kohl. Vielleicht irrationaler. Es sei denn – ja, es sei denn, er weiß eben doch etwas mit Gewissheit, was wir heute noch nicht wissen. Und ist überzeugt davon, dass es sich auf Dauer nicht verheimlichen lassen wird.

Mit 70 habe er keine Ambitionen mehr, sagt Helmut Kohl in Bremen. Da ist ihm entgegenzuhalten, was in diesen Tagen schon oft geschrieben worden ist: Doch, er hat noch Ambitionen, verfolgt derzeit sogar das wohl größte Ziel seines Lebens. Er kämpft um seine Ehre und um seinen Platz in der Geschichte. Das allerdings ist einem Menschen schwerlich vorzuwerfen. Bettina Gaus, Bremen