Ein Land, zwei Bärte

Roger Boylan und Harry Rowohlt vergleichen heute im Literaturhaus ihre Bartlängen  ■ Von Volker Hummel

„Sex, Gott, Alkohol und Irland, wenn das nicht Handlung genug ist.“ Die Worte auf dem Umschlag von Killoyle, dem Erstling von Roger Boylan enthalten alle Elemente, die man heutzutage von einem irischen Roman erwartet.

Nicht erst seit Frank McCourts Bestseller Die Asche meiner Mutter schlagen mittelständischen Großstadtbewohnern die Herzen höher angesichts zerlumpter Großfamilien und gewalttätiger Väter, die ihre roten Nasen allabendlich in überdimensionale Pints stecken. Irland muss häufig herhalten als Projektionsfläche einer Sehnsucht nach Natur-, Familien- und Gottverbundenheit, für die Armut und Gewalt als Garanten von Authentizität fungieren und zugleich als Gradmesser des Weges, den man als zivilisierter Mensch zurückgelegt hat. Man mische eine Prise irischen Humors hinzu, der anscheinend unveränderbaren sozialen Bedingungen immer einen flotten Spruch entgegenzusetzen hat, fertig ist ein weiteres „authentisches“ Irland-Porträt.

Auf den ersten Blick scheint auch Killoyle diesem Genre zugehörig. Zum Personal des Romans zählen eine Handvoll illustrer Bewohner des südostirischen Ortes Killoyle. Da ist zum einen Milo Rogers, Oberkellner im Restaurant von Spudorgan Hall, eines Hotels, mit dem alle Figuren auf die eine oder andere Weise verbunden sind. Milo ist Trinker, Poet und schon seit geraumer Zeit erfolglos bei Frauen. Sein Herz schlägt für die Mode-Kolumnistin Kathy Hickman, die er zwar schon nackt in der alten Ausgabe eines Herrenmagazins erblickt hat, mit der er aber noch kaum ein Wort gewechselt hat.

Kathy wiederum ist mit Murphy liiert, Trinker und Barmann der Spudorgan Hall. Der Ober-Lebensmitteleinkäufer dieses Etablissments ist Wolfetone Grey, ein religiöser Fanatiker, der sich dazu berufen fühlt, nachts Bewohner von Killoyle unter den seltsamsten Vorwänden anzurufen, um ihnen spirituell auf die Sprünge zu helfen. Grey ist Anhänger der Lehren von Leonid Glossowitsch, der allen Menschen das Himmelreich verspricht, deren Namen mit einem „G“ beginnt. Die andere religiöse Figur des Romans ist Pater Doyle, der allerdings fast immer betrunken ist und in Erinnerungen an seine jungen Jahre in Italien schwelgt. Das eigentliche Zentrum des Buches bildet hingegen Emmett Power, von moralischen Zweifeln geplagter Geschäftsführer der Hall und der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, ein neues Leben in Italien zu beginnen.

Killoyle ist von derselben Sehnsucht nach der Fremde durchzogen wie McCourts Die Asche meiner Mutter, und auch hier gelingt zumindest einer Figur die Flucht. Diese Sehnsucht spiegelt sich auch in den Lebenswegen beider Autoren, Frank McCourt lebt heute in New York, Roger Boylan in Texas. Wie auch McCourt wurde Boylan in den USA geboren und lebte dann erst in Irland und anderen europäischen Ländern.

Sein Killoyle ist aber nicht die möglichst genaue Rekonstruktion eines Ortes, den er beschwören muss, um ihn hinter sich zu lassen, sondern eine Erfindung. Bersucht man, die geografischen Angaben des Romans auf einer Karte nachzuvollziehen, stellt man fest, dass sich widersprechen. Killoyle ist kein realistischer Roman, seine episodische Struktur und vor allem sein spielerischer Umgang mit der Sprache stellen ihn vielmehr in die Tradition von Samuel Beckett und Flann O'Brien, zwei Autoren, die Boylan sehr schätzt. Nicht die Asche meiner Mutter diente hier als Vorbild, sondern Molloy und At Swim-to-Birds, Werke, in denen sich absurder Humor und Sprachwitz mit metaphysischen Fragen verbinden.

Die irische Literatur hat also mehr zu bieten als blökende Schafe und rohe Kartoffeln. Dass das auch nach Joyce und Beckett für die deutsche Öffentlichkeit nachlesbar bleibt, ist vor allem das Verdienst von Harry Rowohlt, der neben Die Asche meiner Mutter und Killoyle auch einige Bücher von Flann O'Brien übersetzt hat. Dabei hat er sich schon häufig als kongenialer Sprachschöpfer erwiesen, der die überbordenden linguistischen Kapriolen seiner Autoren vor der Nivellierung durch Eindeutschung bewahrt hat. Es lässt sich vermuten, dass er dabei dem Originaltext manches Mal etwas nachhelfen musste. Wenn also heute abend der Autor und sein Übersetzer gemeinsam ihre „Werke“ kommentieren und vorlesen, dürfte das nicht nur einen amüsanten, sondern auch informativen Einblick in die Praxis des Schreibens liefern.

Roger Boylan, Killoyle, Rogner & Bernhard, Hamburg 1999, 318 Seiten, 27 Mark

Lesung von Harry Rowohlt und Roger Boylan, Literaturhaus, Schwanenwik 38, heute, 20.00 Uhr