Werte: Tarnung für Machtspiele

betr.: „Der Kanzler der Einheit als Staatsfeind“, taz vom 22. 1. 00

[...] Micha Brumlik hat völlig Recht, wenn er Kohls persönliches Ehrenwort dessen Amtseid gegenüberstellt und aus der Höherbewertung des Ehrenwortes eine staatsfeindliche Gesinnung herleitet, weil das rechtsstaatliche Legitimitätsbewusstsein unterhöhlt werde.

Passend dazu verlangte Kohl auf dem Neujahrsempfang der Bremer CDU die Wahrung von Verhältnismäßigkeit: zwei Millionen bei einem Gesamtetat der Bundes-CDU von 50 Millionen. Na prima: Peanuts! Mogeln wir künftig jeden 25. Einkauf unbezahlt an der Kasse vorbei. Manfred Kanther wird unsere kleinsten Rechtsverstöße nicht mehr mit aller Schärfe verfolgen können.

Winfried Schneider, Düsseldorf

„In [seiner] Einstellung – nicht in den Taten! – trifft sich der Ex-Kanzler mit radikalen Tierschützern, anarchistischen Totalverweigerern und dem linken Terrorismus der 70er-Jahre ...“ Weil ich mich in etwa der mittleren Gruppe zuordne, möchte ich dir, lieber Micha, eine Antwort auf deine Komplimente geben:

Zunächst mal würde mich interessieren, wen du mit deinem „nicht in den Taten!“ eigentlich beschützen willst – Kohl oder uns radikale Wirrköpfe? Ich denke, du wolltest wohl Kohl nicht in den RAF-Sack stecken, was? Während wir da ruhig reingepackt werden können ... recht überheblich, und gar nicht wertfrei, was mich zum eigentlichen Thema bringt ...

Du sprichst eher abfällig über „werthaft begründete Gesinnung“ und stellst dem das scheinbar neutrale Heil der „demokratischen Legitimität“ gegenüber. Das passt ja gut zu dem tags zuvor in der taz gedruckten konservativen Philosophen Michael Stürmer:

„Die Demokratie verzichtet im Grunde darauf, Werte einzufordern. Nur Diktaturen behaupten, sie beruhten auf Werten [...] Die Demokratie legitimiert sich durch Verfahren, nicht durch ihre Inhalte.“ Diese Schulbuch-Demokratie, in der nur Verfahren zählt, glaubst du, dass so was sich halten kann? Wer soll sich denn für so was begeistern können??! Ich sehe schon deinen Punkt, du willst gar keine Begeisterung im Gesellschaftlichen; aber den Gefallen, Identitäten und Emotionen hintanzustellen zugunsten eines angeblich wertfreien Apparats, den wird dir keine Bevölkerung der Welt tun. Das wäre ja auch gar keine „Volksherrschaft“, sondern die Herrschaft von Apparatschiks, die die „wertfreien“ Regeln machen.

Der Glaube an so eine „wertfreie“ Mechanik der Verfahren ist doch Fiktion, die in dem Augenblick kollabiert, in dem sie das Reißbrett verlässt. Verfassung, demokratische Legitimation, parlamentarische Spielregeln – ist das alles nicht Lichtjahre weg vom Denken und von den Handlungsmöglichkeiten der (souveränen?) Bevölkerung? Dementsprechend wacklig ist natürlich der Boden der kollektiven Volkspsyche, auf dem dieses Kartenhaus steht.

Zu Recht, finde ich, weil: Werte und Gefühle sind okay! Ohne (kontroverse) Werte und ohne den „Weltbürgerkrieg“ hätten wir tatsächlich das „Ende der Geschichte“ erreicht, wo alles in tödlicher Langweile erstickt, aber da hab ich keine Angst, so weit ist es noch lange nicht. Werte und Gefühle sind okay, solange ein Wert dabei ist: Das Lob der Subjektivität und das Desinteresse an „Wahrheit“, auch als das autonome Individuum bekannt.

Der Unterschied zu Kohl ist: Er heuchelt sein Ehrbewusstsein, um was weiß ich zu verschleiern, seine Werte waren immer nur Tarnung für Machtspielchen. Aber soll er doch großtun mit seiner Ehre! Ich weiß, dass er und sein Umfeld zu meinen „Werten“ in Gegnerschaft stehen, und diese Orientierung genügt mir! Ich muss auch gar nicht so dringend wissen, von wem die Kohle gekommen ist. Die Korruption des Parlamentarismus ist doch Legion, wen interessieren da noch Details? Florian Suittenpointner, München

[...] Organisierte Kriminalität kommt hier zum Vorschein, möglich „in diesem unserem“ Rechtsstaat, und es ist jetzt an den Trägerinnen und Trägern, sich anzustrengen. Wo ist hier eigentlich die viel zitierte Krise? Es ist eben keine, sondern die Missbrauchsmöglichkeiten der so genannten demokratischen Systeme werden sehr schön deutlich. Was bilden sich Politiker ein, was passiert, wenn sie nicht da sind? Wenn es kein Amt gibt, kann auch keines missbraucht werden. Wie kommen wir dazu, diese Strukturen als notwendig zu erleben, gehen wir doch bitte mal ans Eingemachte.

Eine Gruppe von Menschen festigt sich Positionen und redet uns mit spürbarem Erfolg ein, wenn nicht ..., dann! Weltweit wird versucht, die Machtpositionen zu halten. „Wer?“ und „Warum?“, sind die Fragen. Der Versuch der Bewältigung ist nicht neu. Kohl war’s und ein paar Eingeweihte, und wir haben nichts gewusst.

Ist es nicht der dringend notwendige Tod eines zahn- und nutzlosen alten Mannes, oder nennen wir es lieber Vater? Wischen Sie sich die Augen, schauen Sie sich um, und fragen Sie sich einmal, was ist passiert, was den Erhalt dieser Strukturen dringend notwendig macht. Gehn Sie auf die Straße, oder wenn Sie sich nicht schmutzig machen wollen, holen Sie sich eine Karte für die „Schaubühne“ und betrachten Sie einmal die, die nicht als Bürgerinnen und Bürger angesprochen werden, sie leben auch jetzt.

Ist es nicht schön zu sehen, wer die sind und wie sie aussehen, die einem Verfassungsbrecher Standing Ovations geben. Das sind doch zur Zeit die Demonstranten. Bitte stören Sie niemanden, sich eben in seiner ganzen Perfidie zu offenbaren, sich deutlich und erkenntlich zu machen. [...] Lassen Sie sich doch nicht so sehr von diesem Instrument von Meinungsumfragen verängstigen. Mich hat noch niemand gefragt. Meine Antwort: Hey Micha Brumlik, hast du schon mal etwas sooo schön zusammenfallen sehen? [...]

Dörthe Kunkel, Mülheim