Invasionen und ozeanische Paradoxe

Was hat das Plankton im Meer mit dem Erdklima zu tun? Der diesjährige „mare``-Preis geht an zwei Forschungsprojekte, die die klimarelevanten Prozesse im Ozean untersuchen ■ Aus Hamburg Onno Groß

Im Oktober 1990 waren es nur sechs Individuen, auch danach kamen wenige Exemplare vor, aber dieses Jahr wurden 466 Individuen pro Kubikmeter Meerwasser vor Helgoland gezählt: Der winzige Ruderfußkrebs Penilia avirostris war damit im Herbst der häufigste Planktonkrebs der Deutschen Bucht.

Für Wulf Greve von der Ökosystemgruppe am Forschungsinstitut Senckenberg in Hamburg ist die Massenvermehrung von Penilia avirostris ein weiteres Zeichen für die globale Erwämung der Erde. Denn eigentlich sollte der Kleinkrebs nur in den Tropen vorkommen. Durch das milde Klima in der Nordsee konnte der Eindringling jetzt aber die Überhand im Plankton übernehmen. Das Plankton ist die treibende Lebensgemeinschaft aus winzigen Algen, Kleinkrebsen und Fischlarven im Meerwasser. Die Millionen Organismen sind die Basis der Nahrungsketten im Ozean. Die Artenzusammensetzung und Anzahl der Kleinstlebewesen unterliegt dabei zahlreichen Schwankungen, die durch die komplexen Wechselwirkungen zwischen Räuber- und Beuteorganismen oder durch die jahreszeitlichen Veränderungen von Temperatur und Salzgehalt hervorgerufen werden.

Über die letzten Jahre zeigen die Daten der Planktonstudien in der Nordsee, die „Helgoländer Reededaten“, starke Veränderungen in der Artenzusammensetzung. 1989 wurde zum Beispiel eine Invasion der subtropischen Quallenart Muggiaea atlantica beobachtet, die in kurzer Zeit die Anzahl der Planktonkrebse reduzierte. Ohne ihre natürlichen Krebsfeinde konnte sich daraufhin das pflanzliche Plankton stark vermehren. Die Mikroalgen wiederum entnahmen dem Meerwasser die für das Wachstum notwendigen Phosphate und wirkten so kurzfristig einer Eutrophierung des Systems entgegen.

Die genaue Kenntnis der natürlichen Schwankungen der Planktonpopulationen ist auch für die nachhaltige Nutzung der Nordsee durch die Fischerei wichtig. Die Hamburger Forschergruppe um Wulf Greve entwickelte dazu neuartige Prognoseverfahren mit Hilfe von Simulationsmodellen und unter Einsatz künstlicher neuronaler Netze, die weltweit federführend sind. Die daraus errechneten Prognosen zeigten im Vorjahr eine sehr hohe Treffergenauigkeit und konnten für mehrere Tierarten das Auftreten und die Dauer der Verbreitung exakt errechnen. Trotzdem können zur Zeit die Faktoren für die Variabilität noch nicht unterschieden und es kann nicht beantwortet werden, ob anthroprogene Einflüsse wie Überdüngung, Verschmutzung oder Fischerei oder natürliche Klimaschwankungen die Verursacher sind. Insbesondere zur möglichen Klimaabhängigkeit fehlen noch Untersuchungen. Genau diese Forschung ist jetzt Thema eines durch die Zeitschrift mare geförderten Forschungspreises. Schirmherrin des Preises, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal verliehen wurde, ist Elisabeth Mann-Borgese, Professorin für Seerecht an der Dalhousie University in Halifax, Kanada, und Gründungsmitglied des Club of Rome. Mit dem Preisgeld fördert mare Forschungsprojekte auf dem Gebiet umweltrelevanter mariner Naturwissenschaften und Technologien. Der Preis soll dazu beitragen, dass hochwertige und originelle wissenschaftliche Arbeiten verwirklicht werden, für die aus der öffentlichen Hand keine Finanzierung bereit gestellt wird.

Der mit 50.000 Mark dotierte Forschungspreis wurde vergangene Woche an zwei Wissenschaftler aus Rostock und Mainz vergeben. Dem Preisträger Joachim Dippner, vom Institut für Ostseeforschung Warnemünde, ermöglicht der Preis jetzt gezielte Untersuchungen zum Klimageschehen. Er will mit Hilfe moderner statistischer Verfahren die allgemein zugänglichen Datensätze aus den Monitoringprogrammen auf natürliche und klimarelevante Schwankungen hin untersuchen. Einen Zusammenhang konnte er für den Nordseekabeljau schon zeigen: Bei höheren Temperaturen in der Wasseroberfläche verringert sich der Jungfischbestand, bei niedrigen Temperaturen gibt es dagegen mehr Nachwuchs.

Die Zunahme und Einwanderung von subtropischen Planktonarten, die die neuesten Zeitreihen andeuten, liegen für Joachim Dippner angesichts der milden Winter in den 90er-Jahren im Trend. Inwieweit jedoch die einzelnen Stufen des Nahrungsnetzes klimakontrolliert sind, hofft er nun durch die genauere Datenanalyse herauszufinden.

Auch die zweite Hälfte des mare-Preises geht an einen Forscher, der sich mit klimarelevanten Fragen befasst: Der Biogeochemiker Hermann Bange vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz wird für seinen originellen Forschungsansatz bei der Lösung des „ozeanischen Methanparadoxes“ gefördert. Dabei geht es um die Rolle der Schwebstoffe bei der Methangasbildung im Ozean.

Denn das Meeresplankton und deren Abbauprodukte, wie die so genannten Gelbstoffe, nehmen aktiv an der Bildung und Zusammensetzung der Atmosphäre teil. Zum einen hat erst die Produktion von Sauerstoff bei der Fotosynthese der Algen in der erdgeschichtlichen Vergangenheit zur Bildung unserer Atmosphäre geführt. Durch die Fotosynthese wurden auch gewaltige Mengen Kohlendioxid im Ozean fixiert, als karbonatische Sedimentgesteine und organisches Sediment (Kohle, Erdöl, Erdgas) deponiert und somit der Atmosphäre entzogen.

Eine weitere Plankton-Klima-Beziehung beruht auf der Bildung von Dimethylsulfid (DMS) durch einige Algenarten. Nach dem Tod der Algen gelangt das DMS in die Atmosphäre und durch photochemische Oxidation entstehen Schwefelverbindungen wie Sulfat und Schwefeldioxid. Diese dienen als Kondensationskerne für die Wolkenbildung. Erhöhte Algenproduktion kann theoretisch damit zu mehr Wolken und erhöhter Rückstrahlung in der Atmosphäre führen und die Erwärmung des Treibhauseffekts drosseln.

Ein weiteres Klimagas, das Methan, ist ebenfalls eng an die Prozesse im Ozean gebunden. Methan wird in der Natur meist unter Sauerstoffabschluss beim Abbau von organischem Material durch Bakterien gebildet. Dies ist zum Beispiel in Feuchtgebieten, Sümpfen oder auch in den flachen Küstengewässern der Fall. Erstaunlicherweise sind aber auch weite Teile des offenen Ozeans eine nicht zu vernachlässigende Quelle für Methan. Dies bezeichnet man als „ozeanisches Methan-Paradox“, da einerseits in den sauerstoffreichen Wasserschichten des Ozeans mikrobiell gar kein Methan gebildet werden kann und andererseits die Sedimente als Bildungstätten auf Grund der Wassertiefe auch nicht als Quelle in Betracht kommen. Geschätzte 5 bis 20 Millionen Tonnen Methan entweichen jährlich über die Oberfläche der Ozeane. Herman Bange will nun genau diese Entstehungsprozesse von Methan in der obersten Ozeanschicht untersuchen. Eine Erklärung ist die Methanbildung im Seewasser durch den Einfluss des Sonnenlichts, also durch fotochemische Prozesse. Einzelne chemische Ausscheidungen und Trübstoffe der Algen im Seewasser kommen als Methanquelle in Frage. Sollte der Nachweis gelingen, hätte dies weitreichende Folgen: Durch den verstärkten Abbau von Ozon in der Stratosphäre, Stichwort „Ozonloch“, ist mit einer Zunahme von UV-B-Strahlung zu rechnen und dadurch mit zunehmender Methanemission. Solch ein Rückkoppelungsmechanismus verstärkt dann den Treibhauseffekt auf der Erde. Das Plankton im Meer spielt beim zukünftigen Klima stets entscheidend mit.