: Jedwede Sensation schmähende Klarheit
■ Jenny Erpenbeck liest heute im Literaturhaus aus ihrer „Geschichte vom alten Kind“
Die 1967 in Berlin geborene Opernregisseurin Jenny Erpenbeck weiß ihr schmales literarisches Debüt wahrlich von langer Hand vorbereitet. Im Alter von 27 Jahren unternimmt sie eine Art Selbstversuch und schleust sich in die elfte Klasse eines Gymnasiums ein. Vier Wochen lang probt sie, wie es ist, das Erwachsensein zu verdrängen; sie trägt andere Kleidung, spricht anders, verhält sich anders – und fängt tatsächlich an, anders zu empfinden. – Die Vorgeschichte liegt indessen noch viel weiter zurück. Erpenbecks Großmutter, die DDR-Schriftstellerin Hedda Zinner, beginnt eines Tages, Briefe von einem 14-jährigen Mädchen zu erhalten. Als es in ein Krankenhaus eingewiesen wird und sie es dort besucht, stellt sich heraus, dass das Mädchen eine 31-jährige Frau ist und sich unter falschem Namen in ein Kinderheim hat einweisen lassen.
Unter diesen Voraussetzungen entstand die erstaunliche Geschichte von alten Kind. Dieses unförmige, annähernd geschlechtslose Geschöpf wird auf der Straße aufgelesen, mit einem leeren Eimer in der Hand. Polizisten bringen das Mädchen ohne Namen und Herkunft in ein Kinderheim. Durch seine Größe und seine an Apathie grenzende Passivität ist es dort von Anfang an ein Fremdkörper. Gerade aber auf diesem untersten Platz in der Heimhierarchie, „den niemand ihm streitig macht“, empfindet das Mädchen „eine sehr große Beruhigung“.
Bei der Analyse dieses wie vom Himmel gefallenen Wesens auferlegt sich die Erzählerin äußerste Neutralität: Seine Minderwertigkeit wird nicht ausgestellt und nicht mitleiderheischend emotionalisiert, sondern schlicht beschrieben. Allerdings dies auch nicht eigentlich nüchtern, gar fachsprachlich psychologisierend, sondern vielmehr erklärend allein auf einer Ebene, die dem geheimnisvollen Sonderstatus des Mädchens entspricht.
Erklärt wird dadurch freilich überhaupt nichts, eine Identifikation des Lesers mit der Figur ist nicht erwünscht. Der Duktus des Buches ist über weite Strecken der eines dunklen Märchens, eine vornehme Antiquiertheit kennzeichnet manchen Satzbau, und immer ist da eine gewisse poetische Umständlichkeit, deren simple Methode die Wortwiederholung ist. Lediglich an vier Stellen zerteilt jäh eine Ich-Stimme wie aus weiter Ferne den ruhigen Erzählfluss und deutet eine zweite Perspektive an. Das Schönste an der Geschichte vom alten Kind ist, dass die Autorin mit einer jede Sensation schmähenden Klarheit von einem Gegenstand berichtet, der gleich zwei die Fantasie in der Regel rasch überhitzende Komponenten vereinigt: den Wunsch, nicht zu altern (Peter Pan), und das Rätsel des Findelkindes (Kaspar Hauser). Das Klügste an dem Buch ist, dass es darüberhinaus in aller Bescheidenheit Parallelen zur DDR-Geschichte andeutet: das umzäunte Kinderheim mit seiner Schutz bietenden, verlässlichen Ordnung als Staat, das Mädchen mit seinem bedingungslosen Gefallen am Gehorsam als (ideal-)typischer Bewohner. Allein von wonniger Ostalgie ist bei Jenny Erpenbeck nichts zu spüren. Wohl aber der überzeugende Anspruch, eigener Geschichte einen sehr individuellen literarischen Ausdruck zu verleihen – und über nichts zu schreiben, das nicht auf eine Art selbst erlebt wurde. Ralf Poerschke
heute, 20 Uhr, Literaturhaus;
Jenny Erpenbeck: „Geschichte vom alten Kind“, Eichborn, Berlin 1999, 106 Seiten, 29,80 Mark
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