Ein bisschen Friedenin San Sebastián

Vierzehn Monate, bis Dezember 1999, währte der Waffenstillstand, den die baskische Untergrundorganisation ETA erklärt hatte. Im Seebad San Sebastián war deutliche Erleichterung zu spüren gewesen, aber auch Skepsis. Jetzt gab es in Madrid erneut ein Attentat, das der ETA angelastet wird. Kehren nun die Zeiten mörderischer Auseinandersetzungen zurück? Von Antje Bauer

Dass sich San Sebastián vom kleinen Fischerhafen zu einem Nobelbadeort entwickelt hat, verdankt es dem Golf von Biskaya und seinen großartigen Stränden. 1845 stieg die fünfzehnjährige spanische Königin Elisabeth II. hier ab und brachte ihren Hofstaat mit. Vierzig Jahre später erklärte ihre Nachfolgerin Maria Elisabeth von Habsburg die Stadt zu ihrer offiziellen Sommerresidenz, was zahlreiche Mitglieder des Adels und Geldadels unverzüglich nachahmten. Aus dieser Zeit datieren die beeindruckenden Gebäude der Stadt: das große Spielkasino, in dem heute das Rathaus residiert, das Theater Victoria Eugenia, in dem bis vor kurzem die Filmfestspiele von San Sebastián stattfanden, das gleichnamige riesige Hotel sowie eine Reihe großbürgerlicher Gebäude, die sich malerisch um die Concha schmiegen, den größten der drei Strände. Das Herz von Donostia, wie San Sebastián auf Baskisch genannt wird, schlägt jedoch in der Altstadt, in der von der Weite des Meeres nur wenig zu spüren ist. Sie wurde im 19. Jahrhundert gebaut, nachdem ein Brand die Stadt fast völlig zerstört hatte. Schmale, zweistöckige Häuser säumen Gassen, die für den Verkehr gesperrt wurden und deshalb den Fußgängern gehören.

Es ist keine heitere, leichtlebige Altstadt, so wie auch die Basken nicht heiter-südlich sind, obwohl San Sebastián zwanzig Kilometer südlich der französischen Grenze liegt. Die Gassen sind dunkel, die Häuser grau, und auch die vielen politischen Slogans, die mit schwarzer Farbe an die Häuserwände gemalt wurden, wirken nicht eben aufheiternd. „Es lebe die ETA“, ist da auf Baskisch zu lesen, oder „Gefangene raus!“, was sich natürlich nur auf auf die ETA-Gefangenen bezieht. An manchen Wänden kleben Plakate: „Freedom for the Bask Country“, eine Konzession an dieTouristen, die gemeinhin des Baskischen nicht mächtig sind. Hier und da hängt eine kleine rotgrüne baskische Fahne, die Ikurriña, und bringt Farbe in das vorherrschende Grau.

Die Gassen sind zwar ein wenig düster, aber von morgens bis spät in die Nacht belebt. Passanten halten ihren Plausch, Hausfrauen gehen einkaufen. Eine Vielzahl winziger, vollgestopfter Lädchen hat sich erhalten, in der alles zu bekommen ist: Schirm- und Handschuhgeschäfte gibt es, Miederwaren und Badezimmerzubehör, Friseurläden und Apotheken. Vor allem aber Restaurants und Bars. Die Letzteren werden unterschieden in solche, in denen vor allem Bier oder in denen mehr Wein getrunken wird. Apfelwein wird fast überall ausgeschenkt ebenso wie Txakolí, ein junger Weißwein, der als baskisches Nationalgetränk gilt. Flügeltüren und Fenster der meisten Bars sind sperrangelweit geöffnet: Man sieht, wer am Tresen steht, sich mit wem unterhält, und man kann einen Blick auf die Pinchos werfen, die Appetithäppchen, die auf Dutzende Teller verteilt auf dem Tresen bereit liegen.

Zwar haben sich die Kneipen nie wirklich über Mangel an Kunden beklagen können, doch seit die ETA 1998 ihren Waffenstillstand erklärte, hat der Zulauf erheblich zugenommen. Yolanda Fernandez, die schon seit langem in der Bar Munto kellnert, meint: „Früher kamen die Leute zu besonderen Anlässen, jetzt kommen sie auch am Wochenende oder gar unter der Woche. Man kommt unbesorgt in die Altstadt. Vorher hatte man immer Angst, ob eine Demonstration stattfand, ob es Auseinandersetzungen gab – das passierte in der letzten Zeit nicht mehr.“ Bis dahin waren die Gässchen häufig Austragungsort gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Sympathisanten der ETA und der Polizei. Es flogen Gummikugeln und Stahlgeschosse, und häufig hüllten Tränengaswolken die gesamte Altstadt ein. Die Demonstranten bekamen hier Unterstützung durch die Bevölkerung und konnten schneller entkommen als im moderneren Teil der Stadt. Auch wenn es ruhig blieb, war die politische Spannung spürbar.

Wer nicht auf Seiten der ETA-Sympathisanten stand, tat gut daran, dies nicht allzu deutlich zu manifestieren, wie Juan José Leclerc feststellen musste. Leclerc ist 79 und betreibt in der Altstadt ein kleines Geschäft, in dem er topmoderne Hüte, Schiebermützen und die traditionellen Baskenmützen verkauft. Seit es eingerichtet wurde, in den Dreißigerjahren, hat es seinen Stil bewahrt: Schränke und Tresen aus Holz, angeschliffene Spiegel, getäfelte Wände – alles atmet konservative bürgerliche Behaglichkeit. Nur die Gewohnheiten der Kunden haben sich verändert. Die Boina, die traditionelle schwarze Kappe der Basken, wird inzwischen fast nur noch von Touristen gekauft, die älteren Männer greifen lieber zur Schiebermütze. Und die jüngeren Frauen kommen herein, um sich einen changierenden Samtschal zu kaufen, wie er auch in Berlin oder Paris zu bekommen ist. „Wir wollten nicht, dass hier Plakate angeklebt werden, und haben sie abgemacht“, klagt Leclerc. „Am Tag darauf war der ganze Laden zugeklebt, bis oben, bis zum Ladenschild. Diese Fassade ist normalerweise voll damit. Aber man lässt sie besser so, sonst fliegt ein Stein ins Schaufenster.“

San Sebastiáns große Zeit, als die Stadt mit dem nahe gelegenen Biarritz konkurrierte, dauerte bis in die Dreißigerjahre und nahm mit dem Militärputsch des Generals Franco ein Ende. Auf das Baskenland ging eine Welle der Repression nieder, denn die Basken hatten sich, obwohl konservativ, auf die Seite der Republikaner geschlagen: Die versprachen eher, die baskischen Autonomiebedürfnisse und vor allem die baskische Sprache, das Euskerra, zu respektieren.

1959 wurde die ETA gegründet, die gegen die Franco-Diktatur den bewaffneten Kampf aufnahm. Während sie sich zu Zeiten Francos breiter Unterstützung durch die Bevölkerung hatte erfreuen dürfen, sank die Sympathie für die Organisation nach Francos Tod langsam, aber stetig. In den vergangenen Jahren wurden in Donostia oft wöchentlich Schweigedemonstrationen abgehalten: Es reicht! Schluss mit der Gewalt.

Lange Zeit schien jeder Ausweg aus dem Konflikt blockiert. Als jedoch die ETA 1998 den unbefristeten Waffenstillstand ausrief, schlossen sich im Baskenland 23 Parteien, gesellschaftliche Gruppierungen und Gewerkschaften im „Pakt von Lizarra“ zusammen, um eine politische Lösung auszuarbeiten.

Maite Valmaseda, Direktorin der Handelsföderation von San Sebastián, freute sich über die ökonomischen Auswirkungen. Jahrzehntelang hatten von der ETA erhobene Revolutionssteuern und Entführungen von Unternehmern viele potenzielle Investoren abgeschreckt. „Viele Jahre lang wurde eine negative Werbung vom Baskenland gemacht“, meint Valmaseda. „Und als der Waffenstillstand einsetzte, war da viel Neugier, dies Gebiet kennen zu lernen, vielleicht gemischt mit ein bisschen Sensationslüsternheit. Ganze Scharen sind hergeströmt. Und schließlich ist der Haupterwerbszeig der Stadt der Tourismus.“ Doch auch sie hatte Zweifel, dass sich der Friede halten würde: „Wir hoffen alle, dass es einen Dialog gibt, denn das ist der einzige Ausweg“, meinte sie. „Es wäre unerträglich für die baskische Gesellschaft, wenn wir zur vorherigen Situation zurückkehren müssten.“

Im Rathaus von Donostia regiert die Sozialistische Partei Spaniens zusammen mit der rechten, ebenfalls gesamtspanischen Volkspartei. Ernesto Gasco, Vizegeneralsekretär der baskischen Sozialisten und Gemeinderat von San Sebastián, hoffte auf eine Normalisierung: „Man spricht jetzt nicht mehr nur über den Baskenkonflikt, sondern über den Wohlfahrtsstaat, über die Notwendigkeit, dass sich die Basken an Europa anpassen, über die Wirtschaftsentwicklung und die Verteilung des Reichtums. Sowie das Töten wieder anfängt, wird man erneut ständig über den Baskenkonflikt reden.“

Herri Batasuna (HB) hingegen, die ETA-nahe Partei, hatte in der Situation die Chance gewittert, nun auf neuen Wegen doch noch die baskische Unabhängigkeit zu erlangen. Als wäre es ein Gefängnis, muss der Besucher erst eine elektrische Schleuse passieren, ehe er das Büro von Herri Batasuna in San Sebastián betreten kann: HB kann sich Zeiten ohne politische Morde nicht vorstellen. 1998 war auf Initiative von HB eine Gesprächsrunde gebildet worden, die so genannte Versammlung der Gewählten, die sich aus Gemeinderäten zusammensetzte, die über die Zukunft des Baskenlands beraten wollten. Der Clou des Ganzen: An diesem Gesprächskreis nehmen auch Gemeinderäte aus der angrenzenden baskischen Provinz Navarra teil, die administrativ nicht zum Baskenland gehört, sowie Gemeinderäte aus dem nahe gelegenen französischen Baskenland. Eine Art, die vorgegebenen innerstaatlichen und staatlichen Grenzen zu ignorieren und neue politische Strukturen zu schaffen.

Der Haken: Die Beteiligung der Gemeinderäte geschieht auf eigene Initiative, sie werden also durch ihre Verwaltungen nicht beauftragt oder legitimiert. Elena Beloki, Europaparlamentarierin von Herri Batasuna, setzte große Hoffnungen auf diese Versammlung: „Wir bauen hier durch konkrete Schritte einen baskischen Staat auf. Der erste Schritt ist die Versammlung der Gewählten, der nächste könnte eine interprovinzielle Kammer sein, und später werden wir ein baskisches Parlament schaffen, das das gesamte baskische Volk vertritt.“ Bezüglich der Hoffnungen vieler Basken, nach dem Waffenstillstand führe kein Weg zurück zu den Attentaten, hatte Beloki gedroht: „Die Formen des Kampfes sind immer rückgängig zu machen. Wir müssen die Regierung in Madrid und Paris zwingen, dass es zu einem Friedensprozess kommt. Ich würde nichts ausschließen.“

Die Beendigung des Waffenstillstands im Dezember begründete ETA nun unter anderem mit dem Vorwurf, die am Pakt von Lizarra beteiligten Parteien hätten den Aufbau gesamtbaskischer Institutionen nicht vorangetrieben.

Antje Bauer, ehemals Spanienkorrespondentin der taz, lebt inzwischen als freie Autorin in Berlin