Marnies Furcht oder: Die Wunde soll bluten

Schlimme Kindheit, Holocaust, Autounfall: Wer Leid beschreiben will, sagt heute „Trauma“. Jetzt hat sich die Kulturwissenschaft dieses Wortes aus dem psychoanalytischen Vokabelheft angenommen. Diagnose: „Die Rede vom Trauma trägt selbst Signaturen des Traumatischen“ Von Kolja Mensing

Marnie ist eine Trickbetrügerin. Ihre blonden Haare sind schwarz gefärbt, sie besitzt gleich mehrere Sozialversicherungsausweise, und gerade erst hat die Sekretärin elegant den Tresor ihres Chefs ausgeräumt. Doch Marnie stiehlt nicht, weil sie will, sondern weil sie muss. Sie ist eine Kleptomanin.

Auch sonst zeigt sie, vorsichtig formuliert, allerhand Auffälligkeiten. Die junge Frau verfällt in Trancezustände, an die sie sich später nicht erinnern kann. Blumen mit roten Blüten, überhaupt die Farbe Rot, führen bei ihr zu Panikattacken, und sie kann es nicht ertragen, von Männern berührt zu werden, von Sex ganz zu schweigen. Marnie hat ein Problem.

Gut, dass wir uns nach hundert Jahren Psychoanalyse mit so etwas auskennen und gleich das richtige Wort zur Hand haben: Marnie leidet an einem Trauma –einer seelischen Verletzung, die „nach Art eines Fremkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss“, wie Sigmund Freud 1895 in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Wilhelm Fließ schrieb.

Als der Regisseur Alfred Hitchcock mehr als sechzig Jahre später „Marnie“ drehte, richtete er sich nach Freuds Theorien wie nach einem Drehbuch. Marnie, stellt sich im Laufe des Films heraus, hat als Kind ein schreckliches Erlebnis gehabt, das sie verdrängt hat. Die „Schreckäußerung bei psychischer Lücke“, so Freud, inszeniert sich jetzt, viele Jahre später, als zunächst schwer zu durchschauendes Erinnerungstheater: Marnie stiehlt, Marnie wird ohnmächtig, Marnie dreht durch, wenn sie etwas Rotes sieht.

1963, als der Film „Marnie“ entstand, hatte sich die Psychoanalyse bereits als Therapieform durchgesetzt. Bald sollten ihre Erkenntnisse Alltagswissen werden, und daran ist auch Hitchcock mit schuldig. Am Ende von „Psycho“ (1960) lässt er einen Experten ausführlich erklären, warum Norman Bates unbedingt die Rolle seiner toten Mutter einnehmen wollte. Und in „Marnie“ machte er eigentlich nichts anderes, als die Entstehung und Heilung eines psychischen Traumas zu illustrieren – 130 Minuten lang.

Heute müsste man nicht mehr so viel erklären. Der Begriff „Trauma“ ist längst ins Dramadeutsch übergegangen, zusammen mit den „posttraumatischen Belastungsstörungen“ und anderen Phrasen. Das ist das Vokabular, aus dem sich jeder sein Problem oder gleich eine ganze Problembiografie zusammenbasteln kann: Wer davon erzählt, wie er sein totes Meerschweinchen im Garten begraben hat, schildert ein „traumatisches Kindheitserlebnis“, genauso wie er von einer aufgrund eines Buchungsfehlers „traumatisch verlaufenen Urlaubsreise“ erzählt.

Gut, dass es mir schlecht geht, gut dass wir darüber reden können: Die letzte Beziehung „ging traumatisch zu Ende“, das sagt man heute so, und im gleichen Atemzug lässt man sich dann über das „traumatische Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit“ aus oder spendet für kriegstraumatisierte Kinder in Bosnien oder im Kosovo. Es gibt keine wichtigeren oder unwichtigeren Traumata, findet der Kunstphilosoph Boris Groys: „Das Trauma ist seinem Wesen nach demokratisch.“ Man könnte auch sagen: Jeder macht sich damit das Problem, das ihm gerade nützlich scheint.

Die Bedeutungsebenen gehen durcheinander. Als der Spiegel nach dem Zugunglück bei Eschede eine Meldung „Das Trauma der Bahn“ übertitelte, ging es in dem Text erst einmal um das „angeschlagene Image“ der Bahn AG. Das ist die Grundbedeutung des Begriffs „Trauma“: ein medizinisches Fremdwort griechischen Ursprungs, das „Wunde“ oder „Verletzung“ meint (und im Spiegel, im übertragenen Sinne, den Kratzer auf dem Image der Bahn beschreiben soll). Im 19. Jahrhundert entstand dann der Begriff der „traumatischen Neurose“, auch „Unfallkrankheit“ genannt: eine „allgemeine Bezeichnung für diejenigen Nervenkrankheiten, die nach Unfällen beobachtet werden“, definierte 1898 der Brockhaus.

Als Sigmund Freud um die Jahrhundertwende die Grundlagen der Psychoanalyse formulierte, fasste er den Traumabegriff sehr viel enger. Er grenzte das „psychische Trauma“ von den körperlichen Verletzungen ab und begann die „Verdrängung und Bildung von Abwehrsymptomen“ zu beschreiben und zu erklären. Freud befasste sich nicht mehr mit Verkehrsunfällen, sondern mit den kleinen und großen seelischen Katastrophen, besonders denen in der frühen Kindheit.

Vor allem beschrieb Freud einen Weg zur Heilung. Hatte der Brockhaus die traumatische Neurose noch mit „Bädern, Massagen, der Anwendung der Elektricität sowie der Verabreichung von Bromsalzen“ bekämpfen wollen, schilderte Freud in den „Studien über Hysterie“ den Fall eines traumatisierten Patienten, bei dem einzelnen Symptome „sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken“. Erinnere dich, dann wird alles wieder gut: Die „psychische Lücke“ schließt sich.

Auch das führte Hitchcock vor. Mark, Marnies Ehemann, bringt die junge Frau dazu, noch einmal eine schreckliche Szene aus ihrer Kindheit zu durchleben: wie sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter kam, die als Prostituierte arbeitete, wie sie einen Freier im Bett der Mutter fand, wie Marnie den Mann tötet ... Eine gestohlene Geldbörse und rote Gardinen spielen in der Erinnerungssequenz auch eine Rolle. Der Erinnerungsvorhang hebt sich. Marnie erinnert sich, sie ist geheilt.

Es gibt eine Wahrheit hinter den Symptomen, und die Suche nach ihr ist spannend. Freuds Geschichten sind Krimis, Hitchcocks Dramaturgien setzen das konsequent um: das Trauma – ein Thriller.

Obwohl wir heute von Urlaubsreise bis zum Holocaust alles Mögliche traumatisch finden können, gab es lange Zeit eine Art Lieblingstrauma der Öffentlichkeit: den sexuellen Missbrauch.

In den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren war es zu einer regelrechten Traumainflation gekommen. Immer mehr Frauen (und vereinzelt auch Männer) „entdeckten“ verdrängte Erinnerungen an einen Missbrauch in der Kindheit. Schließlich begannen Psychologen an diesen Erzählungen zu zweifeln und sprachen von einem false memory syndrome: der Erinnerung an eine Begebenheit, die es gar nicht gegeben hatte.

Plötzlich schien die „volle Helligkeit“ hinter dem Dunkel des Traumas allzu grell, der Verdacht der Beeinflussung der vermeintlichen Opfer durch ein aufgeheiztes öffentliches Klima lag nahe. Mit dem „Missbrauch des Missbrauchs“ begann die Krise des Traumabegriffs. Wenn alles Trauma ist, ist nichts mehr Trauma.

1995 veröffentlichte der Schweizer Musiker Binjamin Wilkomirski ein Buch mit dem Titel „Bruchstücke einer Kindheit 1939 – 1948“. Darin schilderte er unter anderem seine traumatischen Erinnerungen an die Zeit, die er Kind in den Konzentrationslagern der Nazis verbracht hatte. Ein Journalist recherchierte und entdeckte, dass Wilkomirski niemals in einem KZ gewesen war. Der jedoch bestand auf seinen Erinnerungsbildern. Bewusste Täuschung oder false memory syndrome? Auf jeden Fall geriet die traumatisch gut abgesicherte Erzählung vom Holocaust für einen Moment ins Wanken: Auch dem historischen Missbrauch ist anscheinend nicht mehr zu trauen.

Statt Fallgeschichten eine schlüssige Kategorie zur Erklärung zu geben, ist das „Trauma“ selbst zum Fall geworden: Das Konzept, das seit Freud ungemein praktisch gleichzeitig auf eine dunkles Ereignis in der Vergangenheit und einen zukünftigen Therapieerfolg verwiesen hatte, kriselt seit Mitte der Neunzigerjahre.

Jetzt haben sich die Kulturwissenschaftler der Sache aufklärend angenommen. Einige ihrer Untersuchungsergebnisse wurden jüngst in einem Aufsatzband veröffentlicht, an dem unter anderem die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und die Germanistin Sigrid Weigel mitgearbeitet haben: „Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster“. Die Herausgeberinnen wundern sich zunächst über die „überraschende, vielleicht auch überraschend verspätete Konjunktur“ des Traumabegriffs und die „spürbare Faszination, die dem Diskurs über das Trauma gilt“. Da sei die Gefahr groß, stellen die Kulturdetektivinnen besorgt fest, dass die Spuren verwischt werden. Deshalb wollen sie jetzt „den tendenziell konturlos werdenden“ Begriff „differenzieren“.

Einfach ist das nicht. Sigrid Weigel hat entdeckt, dass „die Rede vom Trauma selbst Signaturen des Traumatischen trägt, einer Sprache der Erinnerung, die sich auf ein vergessenes Ereignis bezieht, das in ihr verborgen und verschlossen bleibt“. Hier geht es nicht mehr um die „Aufarbeitung“ von Geschichte, sondern um eine neue Lesart. Geschichte – insbesondere die nationalsozialistische Vergangenheit – das ist ein traumatischer Zusammenhang entlang von „Erinnerungsspuren und Gedächtnisfiguren“.

Geschichte als Trauma: Das führt auch zu einigen recht ungemütlichen Einsichten in das Nachwirken historischer Ereignisse, wie Sigrid Weigel andeutet, zum Beispiel, „dass in der Nachgeschichte von Auschwitz die Effekte traumatischer Erlebnisse sich nicht nur auf Seiten der Überlebenden, sondern auch auf Seiten der Täter und ihrer Nachgeborenen fortzeugen“. Auch die Nazis und ihre Kinder sind Opfer im Sinne der Traumalogik.

Sigrid Weigels geschichtstheoretische Überlegungen verschärfen die Krise des Traumas. Die „volle Helligkeit“, die Freud hinter dem Trauma erkennen wollte, verwandelt sich endgültig in ein schwarzes Loch. Nichts stimmt mehr?

Mit dem großen Zweifel am Konzept Trauma beschäftigt sich Manfred Weinberg. Er räumt gründlich auf mit dem freudschen Mythos, dass das Trauma der trügerischen Erinnerung als eine Wahrheit gegenüberstellt, an die man mit ein bisschen Detektivarbeit einfach so herankommt. Das Trauma sei die „unverfügbare Wahrheit des Erinnerns“ und damit für Philosophie und Geschichte schlicht und einfach nicht zu gebrauchen. Aus und vorbei: Das Trauma erlebt hier keine Krise mehr, es wird als Erkenntnisinstrument schlicht und einfach verabschiedet – und höchstens noch der Literatur überlassen.

Ein Abschied auf hohem Diskursniveau: Die Kulturwissenschaftler dekonstruieren den Traumabegriff oder lehnen ihn ab. Sie argumentieren mit Freud oder ohne Freud, stellen das Trauma neben die Erinnerung oder über die Erinnerung.

Ein bisschen Trauma soll dann aber doch gerettet werden, darin sind sich die ExpertInnen einig. An das psychoanalytische Credo, die Symptome des Traumas würden bei richtiger Therapie „sogleich und ohne Wiederkehr“ verschwinden, wollen sie zwar nicht mehr glauben, die „Schreckäußerung bei psychischer Lücke“ allerdings gefällt ihnen weiterhin gut. Darum laden sie sich zu ihren Tagungen zum Beispiel den Architekten Daniel Libeskind an und lassen ihn erklären, warum es in seinem Jüdischen Museum in Berlin leere Räume, „Voids“, gibt: „die architektonische Antwort auf eine Geschichte aus Asche“.

Als das Trauma noch in den Händen von Medizinern und Psychoanalytikern war, schloss es die Aussicht auf Heilung ein. Die Kulturwissenschaftler sind dabei, diesen Traumabegriff komplett umzuwerten: Die Lücke soll bleiben, die Wunde bluten, die „Schreckäußerung“ vom Ausnahme- zum Dauerzustand werden. Wir sind, glaubt man den Kulturwissenschaftlern, auf ewig zu Unfallneurotikern verdammt und werden die Schrecklichkeiten des 20. Jahrhundert – genauso wie unsere eigenen Problemchen – als offene Wunde auf der Stirn tragen. Auf diese Weise verwandelt sich die Traumaanalyse vom Therapeutikum zum Hilfsmittel einer schwarzen Pädagogik.

Selbst Marnie entkommt dieser sadistischen Umwertung nicht. Elisabeth Bronfen erkennt in Hitchcocks Film eine kritische Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen „Meistererzählung“ Freuds: Marnies traumatisches Verhalten sei nur eine Schutzdichtung, und dass Marnie zum Beispiel die Berührungen Marks nicht ertragen kann, müsse ja nicht unbedingt einem traumatischen Erlebnis in ihrer Kindheit geschuldet sein, sondern könnte auch ganz einfach auf die Tatsache Verweisen, dass sie nicht auf Männer steht. Mark, Marnies Ehemann, wird so zum Schuft: zum Stellvertreter Freuds, der nichts anderes tat als seine Patientinnen therapeutisch zu vergewaltigen.

Man kann das so sehen. Vielleicht ist beim Ressentiment gegenüber dem guten, alten Traum aber auch einfach Neid und enttäuschte Liebe im Spiel. Mark verliebt sich bekanntlich mehr in Marnies Problem als in Marnie selbst, und 1964 ging das ja noch ganz einfach: Die Probleme waren blond, sexy und aufregend. Heute ist das anders. Insgeheim scheinen die KulturwissenschaftlerInnen sich darüber zu ärgern.

Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Böhlau, Köln, Weimar, Wien 1999, 226 Seiten, 35 Mark

Kolja Mensing, 28, ist taz-Kulturredakteur und lebt in Berlin. Er schreibt über Literatur und anderes