Hundert JahreGrausamkeit

Ein neues Buch über die Kolonisierung des Kongo durch Belgiens König Leopold vor hundert Jahren enthüllt die größten Verbrechen der europäischen Eroberung Afrikas. Es erscheint in einer Zeit, in der der Kongo erneut imperial aufgeteilt wird – diesmal von Afrikanern selbst Von Dominic Johnson

Es ist ein Land im Endstadium des Zerfalls, ohne zentrale Autorität und ohne vernünftige Regierung sogar in den einzelnen Bestandteilen. Fünf Tage lang hat diese Woche der UN-Sicherheitsrat über die Demokratische Republik Kongo diskutiert, in einer ersten zaghaften Einsicht in die Dramatik des Krieges, der dieses riesige Land, Brücke zwischen West- und Ostafrika, seit mehreren Jahren heimsucht. Lösungen erwartete schon vor der Mammutdebatte niemand. Einer Bestandsaufnahme näher zu kommen ist aber schon ein Fortschritt. Man weiß ja inzwischen einiges.

Es ist ein Krieg, dessen Führung in den Händen einer in sich verfeindeten kleinen Elite liegt, deren Mitglieder über Flugzeuge und Satellitentelefone verfügen und damit Kontakt zur Außenwelt haben – ein kostbares Gut, das US-Dollars bringt und die Nähe zu Waffen- und Rohstoffhändlern, zu Hilfsorganisationen und Diplomaten. Für die große Mehrheit der 47 Millionen Kongolesen sind all diese Dinge absolut unerreichbar; sie vegetieren oft in einer auf Naturalientausch reduzierten Subsistenzwirtschaft, in der es über weite Landstriche nicht einmal mehr Märkte gibt, von Transportmitteln und öffentlichen Dienstleistungen ganz zu schweigen.

Diese tiefe Kluft zwischen sichtbar agierenden Warlords und unsichtbar leidender Bevölkerung erklärt, weshalb die verschiedenen kämpfenden Truppen zu großen Teilen aus dem Ausland angeheuert werden müssen, sodass tief im Kongo-Regenwald ruandische Soldaten Einheiten aus Simbabwe belagern. Zuweilen entvölkern solche Kämpfe ganze Landstriche, zu hunderttausenden mussten in manchen Regionen die Menschen in die Wälder fliehen, nachdem ihre Dörfer leer geplündert wurden.

Der US-Botschafter bei der UNO, Dayton-Held Richard Holbrooke, hat die Lösung des Kongokonflikts zur großen Herausforderung für das Jahr 2000 erklärt. Und er weiß trotzdem nicht, was zu tun ist.

Dabei sind die geschilderten Zustände nicht neu. Vor ziemlich genau hundert Jahren fiel das Gebiet des heutigen Kongo Terrorfeldzügen zum Opfer, versanken die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen im Chaos neuer Warlordsysteme. Ähnlich wie heute kongolesische Kriegsherren als Instrumente einer Aufteilung ökonomischer Interessensphären zwischen afrikanischen Mächten das Land für privaten Profit ruinieren, zerstörte Ende des 19. Jahrhunderts der König von Belgien die Kulturen des Kongobeckens, als er sich innerhalb der imperialen Aufteilung Afrikas zwischen den europäischen Mächten die Region als Privatbesitz aneignete.

„Freistaat Kongo“ oder „Unabhängiger Staat Kongo“ hieß das Territorium, in dem die Begriffe Freiheit und Unabhängigkeit allein für König Leopold I. und seine Vertreter galten. Zehn Millionen Tote, so hat der belgische Historiker Jules Marchal errechnet, forderte der „Freistaat“ zwischen seiner Errichtung 1884 und seiner Überschreibung an den belgischen Staat 1908 – etwa die Hälfte der Bevölkerung. „Eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen“ nennt der US-Historiker Adam Hochschild diese historische Episode in seinem Buch „Schatten über dem Kongo“ (King Leopold’s Ghost), das jetzt auf Deutsch erscheint.

Es ist eine sowohl detaillierte wie auch allgemein verständliche Geschichte der Entstehung der Kongokolonie, mit all ihren unfassbaren Grausamkeiten, die weit über das allgemein bekannte Maß der Verbrechen der europäischen Kolonisierung Afrikas hinausgehen.

Auf die Hände der Afrikaner hatten es die Belgier besonders abgesehen. Für jede verschossene Patrone, so die Anweisung, mussten die Soldaten der Besatzungstruppe „Force Publique“ ihren Vorgesetzten eine Hand abliefern, als Beweis dafür, dass tatsächlich jemand getötet worden war. Ging einer auf Wildjagd, machte er den zusätzlichen Munitionsverbrauch dadurch wett, dass er dem nächstbesten Lebenden eine Hand abhackte. Es waren ja keine vollwertigen Menschen.

Schließlich war dies eine Zeit, in der Afrikaner gern in europäischen Zoos ausgestellt wurden. Als Tiere angesehen, konnte man sie natürlich auch mit der schweren Nilpferdpeitsche zur Arbeit anhalten: Jeder Schlag führte zu einer eigenen schweren Verletzung, kein Mensch überlebte hundert Schläge. Eher der Erbauung diente hingegen die Zurschaustellung hingerichteter Gefangener, zum Beispiel in mit Menschenköpfen geschmückten Blumenrabatten. Der berühmteste damalige Kongoreisende, Joseph Conrad, hat diese Angewohnheit angesichts realer Vorbilder anhand des mit Schrumpfköpfen dekorierten Gartenzauns des Kaufmanns Kurtz in seinem Kongoroman „Herz der Finsternis“ verewigt. Das „Licht der Zivilisation“, so erkannte ein Missionar, kam über die Kongolesen in Form des Feuerscheins brennender Dörfer.

Hochschild zieht Parallelen zum Holocaust, nicht nur in der Opferzahl, sondern auch in der Methodik der Täter, gepaart mit Unschuldsmentalität, und dem Vergessenswillen der Nachwelt. „Warum tauchten diese Morde in der üblichen Aufzählung der Schreckenstaten unseres Jahrhunderts nie auf?“ stellt er gleich zu Anfang die Frage, die sich jedem Leser bei der Lektüre aufdrängt. „Und warum hatte ich noch nie von ihnen gehört?“

Die Welt ist dem Kongo vieles schuldig. König Leopold schuf seine Kolonie nicht allein, sondern sicherte sich bei jedem Schritt ab, indem er seinen Erwerbsdrang als humanitäres Werk darstellte und vor die Eroberung die diplomatische Anerkennung seines „Freistaats“ setzte – vor allem auf der berühmten Berliner Afrikakonferenz von 1884 – 85, die entgegen einer auch in Afrika verbreiteten Legende nicht die kolonialen Grenzen Afrikas zog, sondern Streitereien um die Handelsflüsse Kongo und Niger beilegte und zur Wahrung des Freihandels im Kongobecken den „Freistaat Kongo“ anerkannte, obwohl dieser ganz andere Zwecke hatte.

Auf dem Rücken der Kongolesen wurde 1884 – 85 erfolgreich geregelt, was 1914 in Europa selbst scheitern sollte: Krieg zwischen den Weltmächten zu vermeiden. Die Welt schuldet dem Kongo mehr als nur dreißig Jahre Frieden. In dieser Friedenszeit wurde die industrielle Nutzung von Kautschuk entdeckt, und der Kongo wurde zum Hauptlieferanten dieses Rohstoffs, ohne den es keine Reifen hätte geben können und damit keine Autos, keine motorisierten Kriege.

Die straff organisierte Zwangsernte des Kautschuks im Kongo, die Hochschild als tropische Vorform des sowjetischen Gulagarchipels beschreibt, war Hauptursache des millionenfachen Sterbens und des gesellschaftlichen Zerfalls, da ganze Königreiche lieber in den Wald flohen, als zur todesbringenden Zwangsarbeit gekidnappt zu werden. Andere Segnungen der Zivilisation, die ursprünglich aus dem Kongo kommen, erwähnt Hochschild nicht: Chinin, das erste effektive Malariamittel; oder Uran, Urstoff der Atombombe. Das kam alles erst später.

Viel später noch, in den Sechzigerjahren, war der Kongo die Bühne für die erste UN-Blauhelmtruppe und damit für die entscheidende Weiterentwicklung der Völkerrechtspraxis im späten 20. Jahrhundert. Und neuerdings kommen aus dem Kongo seltene Edelmetalle wie Tantal, ein zentraler Baustoff der leistungsfähigsten Mikroprozessoren. Heute wie früher wecken die Reichtümer des Kongo die Begierden der Welt – eine Welt, die sich vom Äquator aus gesehen wenig verändert zu haben scheint.

„Diese räuberischen und freibeuterischen Garnisonstruppen nötigen die Eingeborenen mit vorgehaltener Muskete, sie mit Fisch, Ziegen, Geflügel und Gemüse zu versorgen, und wenn die Eingeborenen sich weigern, kommen Offiziere mit einem Expeditionskorps und brennen die Hütten der Eingeborenen ab.“ Nur die Wortwahl verrät, dass dieser Bericht aus dem Kongo von 1891 stammt und nicht von 1999. Die Parallelen erstrecken sich aber nicht nur auf das Erleben der Opfer. Seit der Kolonialzeit wurde nicht mehr so verächtlich von den Bewohnern des Kongo gesprochen wie es heute in der Oberschicht von Ruanda und Uganda zum Allgemeingut gehört: Sie gelten als ein zur Selbstkontrolle und Selbstbestimmung unfähiges Volk, das froh sein solle, wenn man sich herablasse, ihm bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Im Kongo wiederum kursiert über die „fremden Besatzer“ Greuelpropaganda. Den „Tutsi-Schimpansen“ sprach eine Zeitung in Kinshasa kürzlich die Menschlichkeit ab, Laurent Kabila wirft ihnen das Töten ungeborener Kinder vor, so wie einst über die Belgier gemutmaßt wurde, ihre Corned-Beef-Konserven würden aus den vielen abgehackten kongolesischen Händen hergestellt.

Kongos Präsident Kabila, der sich jetzt als Opfer imperialer Gelüste darstellt, ist in Wahrheit ein Erbe König Leopolds: Ebenso schlau wie der belgische König hat sich Kabila immer rückversichert, bevor er zum Sprung an die Macht ansetzte. Er ließ sich als erstes von den USA als Alternative zum zairischen Diktator Mobutu Sese Seko anerkennen, bevor er 1996 mit Hilfe Ugandas und Ruandas seine Feldzüge startete. Nach seinem Sieg 1997 und der Gründung der von ihm geführten Demokratischen Republik Kongo in den Ruinen Zaires ließ er seine Paten fallen und spielte die mächtigeren Staaten Zentralafrikas gegeneinander aus – so intrigant wie König Leopold, der die europäischen Mächte an den Rand des Krieges brachte, bevor die Berliner Konferenz eine Friedenslösung zu seinen Gunsten herbeiführte. Auf ein solches Resultat hofft auch Kabila heute bei den internationalen Kongofriedensbemühungen.

Die Idee einer „zweiten Berliner Konferenz“ wurde schon 1996 anhand des beginnenden Kongokrieges in die Debatte eingeführt – allerdings nicht von Kabila, sondern von Ruandas Präsident Pasteur Bizimungu. Genau wie Afrika die Berliner Konferenz von 1884 – 85 immer fälschlicherweise für eine Veranstaltung zur imperialen Grenzziehung gehalten hat, wurde auch Bizimungu als Advokat einer Grenzverschiebung – natürlich zu Gunsten Ruandas – missverstanden.

In Wahrheit bedeutet ein Rekurs auf Berlin für den Kongo heute etwas anderes. Die geltende Friedenslogik, die erstmals im Juli 1999 bei der Erstellung des Kongo-Waffenstillstandsabkommen von Lusaka entstand, verlangt die Umwandlung der kämpfenden Truppen aus dem Ausland in Friedenstruppen. Ihre jeweiligen kongolesischen Vasallen werden Parteien in einem innerkongolesischen Aussöhnungsprozess. Dann führt die Regierung Kabila, militärisch unterstützt von Angola, Namibia und Simbabwe, einen „nationalen Dialog“ mit den Rebellen – der von Ruanda gestützten RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie) und der von Uganda gestützten MLC (Kongolesische Befrieungsbewegung) – sowie der oft unterdrückten zivilen Opposition. Am Ende dieses Prozesses soll eine staatliche Neuordnung des Kongo stehen.

Offen bleibt, wie sehr diese Neuordnung von den Kongolesen selbst bestimmt wird oder von den mächtigen Waffenbrüdern erzwungen. Die mächtigen Geschäftsleute und Generäle, die heute im Kongo reich werden – zum Beispiel im Umfeld der Präsidenten von Simbabwe und Uganda –, sind längst zu Kolonisatoren geworden, zu Rivalen um ein fremdes Land, über dessen Territorium und Reichtümer sie ohne Skrupel verfügen.

1885 wurde vereinbart, dass der Kongo nicht mit Krieg, sondern mit dem Respekt für gegenseitige Ansprüche und mit der neutralitätserzwingenden Einrichtung des Freihandels erschlossen werden solle. Eine zweite Berliner Konferenz heute müsste zwischen den Mächten Afrikas stattfinden und per Freihandel und territorialer Neutralisierung die Bildung afrikanischer Warlord-Territorien im Kongo in geregelte Bahnen führen.

Freilich wäre den Kongolesen damit unmittelbar wenig gedient. Sie würden ihre jetzt schon faktisch vergebene Unabhängigkeit auch formal verlieren. Aber Adam Hochschild erzählt auch das Ende der Geschichte in einer Weise, die Hoffnung zulässt: Eine internationale Protestbewegung gegen die unmenschlichen Verhältnisse in König Leopolds Freistaat zwang den Monarchen schließlich 1908 zur Verstaatlichung seines afrikanischen Spielplatzes und zur Überführung des Kongo an Belgien.

„Eine verantwortliche Regierung hat den unverantwortlichen Despotismus abgelöst“, freute sich der führende Kongoreformer Morel, der dennoch lieber die komplette Unabhängigkeit gesehen hätte. Morel und die vielen anderen Kämpfer gegen die Kongogreuel, auch darauf weist Hochschild hin, sind heute so gut wie vergessen. Aber in jenen Ländern, deren Herrscher sich heute mittels der Reichtümer des Kongo an der Macht halten, gibt es durchaus Demokratie- und Reformbewegungen.

In Simbabwe und Namibia haben sich schlagkräftige Oppositionsparteien gebildet, die den regierenden Quasieinheitsparteien Angst machen. In den von vergangenen eigenen Kriegen verhärteten Gesellschaften Ruandas, Burundis und Ugandas streiten Bürgerrechtler für eine Aussöhung, die erlauben soll, die Allmacht der Herrschenden in Frage zu stellen. Sollten all diese Bemühungen zum Ende der modernen Kolonisierung mitten in Afrika beitragen, hätten die Kongoreformer von vor hundert Jahren wenigstens historische Erben gefunden.

Dominic Johnson, 32, ist Afrikaredakteur im Auslandsressort der taz

Lektüre: Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo, Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 483 Seiten, 49,80 Mark