Das Ende der Sandkastenliebe

Die Berliner sind es satt. Sie wollen keine Baustellen und keine Schaustellen mehr, sondern nur noch ihre Ruhe. Doch auf die Stadt rollt schon die nächste Bauwelle zu ■ Von Rolf Lautenschläger

Der Konflikt war nicht mehr unter der Decke zu halten. Die Kaufhausbesitzer an Berlins Einkaufsmeile Numero eins, der Friedrichstraße, hatte der Zorn gepackt, als vor einiger Zeit der Verkehrssenator den Bau eines U-Bahnhofs vor ihrer Tür ankündigte. Peter Dussmann, Chef des großen „Kulturkaufhauses“ an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, drohte mit der Schließung des Geschäfts. Geschäftsfrau Dorothea Stöbe war sauer auf den Senat. Die Galeries Lafayette, Modefiliale aus Paris, rümpften ebenfalls die Nase.

Ein neuer U-Bahnhof, Station „Unter den Linden/Friedrichstraße“, für die geplante Linie 5 vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, sei inakzeptabel. Noch mehr Bagger und Baukräne, erneut Staus und Dreck an den Schuhen der Kunden komme nicht inFrage, schimpften sie. Gerade hätten sich die Geschäfte vom Baustellenwahn vor Ort erholt. Und jetzt das.

„Wir werden das nicht hinnehmen“, poltert Dussmann-Sprecher Thomas Greiner. Jahrelang habe man den Baubetrieb an der Friedrichstraße ertragen. Jetzt, da viele der Gebäude fertig seien, steige der Umsatz. Eine neue Bauwelle mache die Einnahmen zunichte. Irgendwann sei Schluss mit der Großbaustelle Berlin.

In der Tat, die Liebe der Berliner zu ihren Baustellen hat sich zehn Jahre nach dem Fall der Mauer rapide verändert. Zwar hätte man die Baustellen schon immer am liebsten in die Spree gekippt, samt Umleitungen, Ampelanlagen, Dreck, Lärm und Staub. Zugleich konnten die Hauptstädter an den tiefen Gruben und gigantischen Rohbauten nicht genug kriegen. Man stürmte auf „Baustellen-Spaziergängen“ den Reichstag, den Lehrter Zentralbahnhof, Potsdamer und Pariser Platz oder die Friedrichstraße. Von den Kränen und neuer Architektur profitierten das Image der Stadt, die Unternehmen und vor allem die Tourismusbranche. „Baustelle Berlin“ stand für Aufbruch, Wandel und Veränderung.

Doch nicht nur wenn es ums Geld geht, wie bei den Geschäftsleuten in der Friedrichstraße, hört heute der Baustellenspaß auf. Trendy in der Stadt sind jetzt die neuen Quartiere, die Hochhäuser am Potsdamer Platz, die schicken Bars am Gendarmenmarkt, die fertigen Ministerien und Parlamentsbauten. Zum Rohbau des Kanzleramtes stapft man nicht hinüber, sondern schaut ihn aus der gläsernen Reichstagskuppel an. Einkaufen gehen die Berliner in die neuen Potsdamer-Platz-Arkaden und ärgern sich, wenn die Lkw von den Baustellen am Leiziger Platz ihre Wege kreuzen.

Volker Hassemer, Ex-Stadtentwicklungssenator und heute Marketing-Chef der „Partner für Berlin“-Gesellschaft, hat den Anti-Baustellen-Trend ebenfalls ausgemacht. „Nach der Phase des Bauens kommt jetzt die Phase des Einzugs, des Sich-Einrichtens in der Hauptstadt.“

Den Berliner Taxifahrern, jenen mobilen Seelen der Stadt, stanken die Umleitungen und Staus vor Baustellen schon lange, und die wiedergewonnenen Möglichkeiten zur freien Fahrt werden radikal ausgenutzt. Als jüngst die Strecke vor dem Brandenburger Tor von Bauabsperrungen für den Eisenbahntunnel geräumt wurde, stoppte die Polizei einen Fahrer wegen zu hoher Geschwindigkeit. „Ick brauchte das“, sagte der einer Berliner Boulevard-Zeitung.

Und auch die rote Info-Box, jene Aussichtsplattform am Potsdamer Platz, die Millionen Berliner und Touristen für einen Blick auf die „größte Baustelle Europas“ nutzten, meldet Besucherrückgang. „Berliner Dialekt höre ich kaum noch“, sagt ein Mitarbeiter der Info-Box. „Warum auch“, gibt er sich die Antwort, „soll jemand hier oben stehen, wenn man drüben durch das fertige Viertel von Debis oder das Sony-Center gehen kann.“

Ganz Berlin baustellenfrei? Wohl kaum. Am Alexanderplatz, im Zentrum und der City West stehen neue Baumaßnahmen an. Wie die baustellenmüden Berliner darauf reagieren werden, ist auszumachen: gereizt.

Entwarnung erhalten haben einstweilen die Kaufhäuser und Geschäftsleute der Friedrichstraße. Die U-Bahn-Linie 5, die vom Baustadtrat des Bezirks ebenso abgelehnt wird wie von den Bündnisgrünen im Landtag, hat der neue Bausenator Peter Strieder (SPD) auf den Index gesetzt. Ihr Bau könnte verschoben werden, auf 2006, 2010 oder für immer. Für Dussmann und andere ist das bis dahin bares Geld.