Krieg in Tschetschenien? Ach, wirklich?

Mehrere Bundesländer wollten tschetschenische Flüchtlinge abschieben. Ihre Entscheidungshilfe, der Lagebericht des Auswärtigen Amtes, stammt aus Vorkriegszeiten. Erst gestern kam der Entscheidungsstopp ■ Von Marina Mai

Berlin (taz) – Nach vier Monaten russischer Offensive in Tschetschenien reagierte nun prompt das deutsche Innenministerium: Gestern erließ die Regierung einen Entscheidungsstopp für die Asylanträge von Flüchtlingen aus Tschetschenien.

Während des gesamten Krieges waren tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland von Abschiebung bedroht. Die Tschetschenin Elisa Arzujewa und ihre zwei Kleinkinder aus Berlin verdanken es einem Zufall, dass sie noch hier leben: Die russische Botschaft hat ihnen bislang keinen Pass für die Rückreise ausstellen können. Juristisch sei für Frau Arzujewa alles ausgereizt, erklärte ihr Anwalt Christoph von Planta der taz: Der Asylantrag wurde abgelehnt. Ihre Klage gegen die Ablehnung könne sie nach Auffassung des Berliner Verwaltungsgerichtes von Russland aus betreiben, weil ihr dort, so die Verwaltungsrichter, keine Gefahr drohe. Auch die Berliner Innenverwaltung hatte keine Bedenken, Tschetschenen abzuschieben, wie ihre Sprecherin Isabelle Kalbitzer erklärt: „Wir schieben nicht nach Grosny ab, sondern nach Moskau. Dort ist kein Krieg.“ Allerdings gebe es bei vielen Tschetschenen ein „faktisches Abschiebehindernis“: Die russische Botschaft stelle keine Pässe aus.

Anwalt von Planta hat jedoch Anhaltspunkte, wonach sich Tschetschenen in Russland nicht frei niederlassen dürfen. „Darüber hinaus liegen mir Informationen über willkürliche Festnahmen und menschenrechtswidrige Behandlungen von Tschetschenen in russischen Städten vor.“ Der russische Menschenrechtler Sergeij Kowaljow sprach gegenüber dem ARD-Magazin Monitor sogar von einer Weiterschiebung tschetschenischer Flüchtlinge nach Inguschetien. Ob Flüchtlinge von dort nach Tschetschenien geschickt werden, wisse niemand außer den russischen Militärs. Von Planta: „Diese Informationen wurden von den Gerichten und Ausländerbehörden bislang ignoriert.“

Den Grund für die Ignoranz sieht der Sprecher der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl, Heiko Kauffmann, in den veralteten Berichten des Auswärtigen Amtes über Russland. Der letzte Lagebericht der Behörde von Joschka Fischer (Grüne) stamme aus dem November 1998. Anhand der Lageberichte sollen Gerichte und Innenbehörden ihre Informationen über die Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge beziehen und damit sachkundig über Abschiebung oder Bleiberecht entscheiden. Außenamtsstaatssekretär Ludger Volmer (Grüne) hatte im September vergangenen Jahres gegenüber der Presse angekündigt, Lageberichte zu Staaten mit einer „großen innenpolitischen Dynamik“ und „krisenhaften Entwicklungen“ halbjährlich oder „auch im schnelleren Abstand ständig“ zu erneuern. Davon kann bisher keine Rede sein. Lediglich fünf von 42 Länderberichten wurden seither nach Angaben des Auswärtigen Amtes neu gefasst. Kauffmann sind weitere Fälle von Tschetschenen sowie auch von russischen Deserteuren bekannt, denen die Abschiebung droht.

Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes gibt den schwarzen Peter an die Bundesländer weiter: Das Außenamt sei nur für die politische Lageeinschätzung, nicht für die juristischen Schlussfolgerungen verantwortlich. „Die Länderbehörden wissen, dass sie per Amtshilfe von uns neuere Informationen erhalten können, wenn ein Lagebericht offensichtlich veraltet ist.“ Kein Innenministerium und kein Gericht hätte jedoch bisher wegen der Situation in Tschetschenien nachgefragt.

Erst im Zuge der Monitor-Recherchen hat das Auswärtige Amt am Donnerstag seinen alten Lagebericht zu Russland zurückgezogen und eine Aktualisierung angekündigt.

Einen Abschiebestopp für Tschetschenen und russische Deserteure bedeutet das jedoch nicht. Den können nur die Innenminister erlassen.