Aufklärung nur, wo sich die Partei bedroht sieht

In der Praxis unterscheidet sich die Korruption in China nicht von der in Deutschland.Aufdeckung jedoch ist im Einparteienstaat schwieriger: Es gibt keine unabhängige Instanz

Er leistete einen bedeutenden Beitrag zur Wiedervereinigung seines Landes, indem er den Handel mit Taiwan über alle Gesetze hinweg förderte. Und er hinterließ blühende Landschaften dort, wo er zu Hause war: Lai Changxing, 9König der Schmuggler. Manch schmucker Apartmentbau im alten Kolonialparadies Xiamen an der Taiwanstraße verdankt seine Entstehung dem Anlagezwang für seine erschmuggelten Milliarden. Der Vergleich zu Helmut Kohl drängt sich förmlich auf, denn Lai Changxing diente außer sich selbst auch seinem Volk und war in Xiamen mindestens so populär wie Helmut Kohl in Rheinland-Pfalz.

Inzwischen aber lassen sich die Karrieren nicht mehr vergleichen. Denn seit ihre Missetaten bekannt sind, bekommt Lai in China die vielen Ungerechtigkeiten des von ihm einst so virtuos beherrschten Einparteiensystems zu spüren, während Kohl in Deutschland alle Vorzüge des Mehrparteiensystems genießt. So muss der nach Australien entflohene Lai bei seiner Heimkehr die Todesstrafe fürchten, weil die Parteiführung mit seiner Bestrafung ein Exempel statuieren will. Kohl aber kann in Oggersheim bleiben und sich auf die Längen des Rechtswegs freuen.

Einerseits funktioniert Korruption im autoritären China genauso wie im demokratischen Deutschland: In beiden Ländern sind dubiose Kofferträger mit Unsummen an Bargeld unterwegs. Hier wie dort ist die Auszahlung dieser Summen nie an konkrete Bedingungen geknüpft, weil das wirklich große Geschäft im Hintergrund stattfindet: Panzer für Saudi-Arabien aus Deutschland im Falle Kohls, Öl aus Saudi-Arabien für China im Fall Lais. Und auch in der Seele der Protagonisten dürften sich die gleichen Dramen abspielen. Kohl war von seinem europäischen Auftrag beseelt, Lai sah sich als Aufbauheld des neuen China. Beide strahlten patriarchalische Großzügigkeit aus, und ihre Popularität gab ihnen das Gefühl der Unverletzlichkeit.

Andererseits aber bedeutet Korruption in China etwas ganz anderes als in Deutschland, und zwar von dem Moment an, in dem sie bekannt wird. Schon die Aufdeckung eines Skandals findet in China unter viel schwierigeren Bedingungen statt. Keine zweite Partei, keine unabhängige Justiz oder Presse hilft dabei. Vielmehr muss der einzig vorhandene Parteiapparat selbst diese Aufgabe leisten, was deshalb nur in Ausnahmefällen geschehen kann, wenn sich die Partei bedroht fühlt.

Der Schmuggelkönig von Xiamen ist so ein Ausnahmefall. Seine Macht war schon so groß, dass nur die Rücktrittsdrohung des Regierungschefs in Peking die Ermittlungen gegen ihn in Gang bringen konnte. Noch im Herbst letzten Jahres trafen die beiden Gegner persönlich aufeinander: Lai soll Premierminister Zhu Rongji bei dieser Gelegenheit 2 Milliarden Yuan für seine Straffreiheit geboten haben.

Zhu sagte nichts, fuhr zurück nach Peking und befahl Lais Festnahme. Die von mehreren Hongkonger Zeitungen kolportierte Szene verdeutlicht nicht nur, wie sehr Lai mit dem Regierungssystem verwachsen gewesen sein muss, wenn er sich vor dem Regierungschef persönlich rechtfertigen darf. Sie zeigt vor allem, dass nur der unbeugsame Wille eines Einzelnen – und niemand bestreitet Zhus entschlossenen Kampf gegen die Korruption – den Skandal ans Tageslicht bringt. Mit anderen Worten: Aufklärung ist dem Einparteiensystem nicht immanent. Wo sie aber einsetzt, ist der Ausgang unberechenbar.

Schon heute darf deshalb darüber gestritten werden, ob Korruption für den Parteiapparat systembedrohend ist. Alle sichtbaren Revolten der nach dem Tode Maos einsetzenden Reformära führen auf sie zurück: Der Studentenprotest vor dem blutigen Tiananmen-Aufstand im Frühjahr 1989 war ebenso von Korruptionsenthüllungen ausgelöst wie die zahlreichen lokalen Arbeiter-und-Bauern-Proteste der Neunzigerjahre.

Diesmal kann der Skandal über das angeschlagene Politbüromitglied Jia Qinglin sogar dessen Gönner, Staatspräsident Jiang Zemin, erreichen. Es wäre zwar auch nach deutschen Maßstäben nichts Besonderes, wenn dann der mächtigste Mann im Staat ins Zwielicht geriete. Doch hat Jiang im Gegensatz zu Kohl keine Aussichten auf rechtzeitige Ablösung.