Heikler Großeinsatz gegen die Korruption

In China ist der größte Korruptionsskandal in der Geschichte der Volksrepublik ans Licht gekommen. Es geht um Schmuggelware im Wert von 30 Milliarden Mark, um die Machenschaften des Schmugglerkönigs Lai Changxing. Für die Regierung ist die Aufdeckung delikat: Es wird auch gegen Parteikader ermittelt ■ Aus Xiamen Georg Blume

Im fünften Stock eines mit goldenen Metallplatten aus der Schweiz verkleideten Hotelturms steht der designierte Bauleiter des höchsten Hauses von China und trauert. „Hier wäre das schönste Symbol der chinesischen Öffnungspolitik entstanden“, sagt der 32-Jährige und zeigt auf eine riesige Baugrube. Nicht genug, dass er das neue „Yuanhua International Hotel“ im Rohbau belassen und seine Arbeiter anweisen muss, die noch nicht installierten Metallplatten abzutransportieren, bevor sie ein Dieb entdeckt. Ihm ist jetzt vor allem der Traum abhanden gekommen, gleich neben dem Hotel die himmelhohen Pläne von Chinas größtem Betrüger zu verwirklichen. Denn hier, im neuen Zentrum der südchinesischen Hafenstadt Xiamen, wollte der Immobilienunternehmer und Schmugglerkönig Lai Changxing das höchste Gebäude der Volksrepublik (88 Stockwerke) errichten lassen. Hätte er nicht im letzten Monat nach Australien fliehen müssen.

Wo immer man in seiner Wahlheimat, der Provinz Fujian, nach Lai Changxing fragt: Die Geschichten tragen den Charakter einer harmlosen Provinzposse. Doch es geht um viel mehr. Noch nie seit Beginn der kommunistischen Republik vor 50 Jahren wurde ein auch nur annähernd so großer Korruptionsskandal bekannt.

Diese Woche meldeten Hongkonger Zeitungen unter Berufung auf Pekinger Polizeiquellen, dass Lai Zoll- und Steuergelder im Wert von umgerechnet dreißig Milliarden Mark hinterzogen habe. Alles habe er ohne Abgaben durch Xiamens Hafen importiert: Öl aus Saudi-Arabien, Elektronik aus Japan, Luxuslimousinen aus Deutschland, Zigaretten aus den USA. Da die chinesischen Zölle auf diese Produkte bis zu hundert Prozent betragen, ließ sich mit dem Schmuggel eine Menge Geld verdienen. Und Lai legte es so an, dass ihm lange Zeit niemand auf die Schliche kommen wollte.

Die Stadt Xiamen verehrt Lai Changxing als Helden

Er selbst stammt aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern lebten auf dem Dorf, 200 Kilometer nördlich von Xiamen. Doch der Sohn boxte sich nach Hongkong durch, wo er mindestens drei Firmen gründete. Erst nach seiner Rückkehr nach Xiamen gelang Lai sein erstes berühmtes Projekt: die Rekonstruktion des Pekinger Kaiserpalasts in dem Provinznest Tongan nahe Xiamen. „Es wirkte nicht echt, aber es war witzig“, erzählt eine Studentin von ihrem Besuch in Tongan. „Ich war das erste Mal auf dem Tiananmenplatz.“

Und so hörte Lai bis vor wenigen Wochen nicht auf, seine Mitbürger zu faszinieren. „Er kam zu uns wie jeder andere Gast und bezahlte dann hundert statt fünf Yuan für die Nudelsuppe“, erinnert sich der islamische Gastwirt, der gegenüber der von Sicherheitskräften belagerten Firmenzentrale von Yuanhua den Fladenteig knetet.

„Lai ist und bleibt ein guter Mensch“, sagt der Bauleiter. Das halb fertige Yuanhua-Hotel ist auch ein Projekt des in China meist gesuchten Mannes. Es sollte später einmal seine mächtigen Freunde aus Peking beherbergen. Denn bisher verstand sich Lai Changxing mit allen gut. Etwa mit Lin Youfang, der seit Dezember geschiedenen Frau von Politbüromitglied Jia Qinglin. Lin half Lai als Angestellte im Außenhandelsbüro von Xiamen, weshalb sie nun ohne Ehemann dasteht. Doch solche Konsequenzen waren für niemanden vorauszusehen. Denn Lai war der Held seiner Stadt. Xiamen liebt ihn auch heute noch, obgleich inzwischen sogar Interpol nach ihm fahndet. „Ich gehöre nicht zu denjenigen, die ihm gestern nachliefen und heute mit Steinen nach ihm werfen“, sagt der Mann vom Bau. Genauso treu sind die Fußballfans von Xiamen. Dank Lais Geldern steigt ihr Verein zur neuen Saison in die erste Liga auf. „Wir wären keine Fußballfans, wenn wir jetzt unseren Verein aufgeben würden“, so die einhellige Meinung in einer Gruppe von Hafenarbeitern in Xiamen.

Die Sympathie der Einheimischen für Lai teilen die 400 Ermittler nicht, die die Regierung in Peking in Ermangelung einer ernst zu nehmenden Justiz im Ein-Parteien-Staat aus der Hauptstadt nach Xiamen entsandt hat, um den Skandal zu lüften. Fünf Einsatzgruppen beschäftigen sich mit den Sündern: eine für die Polizei, eine für den Zoll, eine für das Finanzamt, eine für die Banken und eine für die Stadtverwaltung. Das neue Fünf-Sterne-Hotel der Xiamen-Airline dient den Ermittlern als Sitz und Bleibe für sich und die inzwischen 200 Untersuchungshäftlinge. Es ist das einzige Fünf-Sterne-Hotel von Xiamen, in dem jetzt Unterwäsche zum Trocknen in den Fenstern hängt. Man richtet sich dort offenbar für längere Zeit ein.

Aufklärung ist „Krieg zwischen Peking und Xiamen“

Der Partei in Peking aber können die Ermittlungen nicht schnell genug gehen. Die Lunte brennt, und wer an ihrem Ende steht, weiß derzeit niemand. Mit Jia Yinglin, der auch als Pekinger Parteichef dient, ist bereits ein enger Vertrauter des Partei- und Staatschefs Jiang Zemin in die Schlagzeilen der Hongkonger Presse geraten. Nach tagelangem Schweigen bestritten Partei- und Regierungssprecher am Donnerstag erstmals die Berichte der Hongkonger Medien. Lin Youfang sei nicht in den Fall involviert. Es war die erste offizielle Stellungnahme. Doch die Nachrichtensperre wurde nicht aufgehoben, weiter gehende Fragen nicht beantwortet. Lange kann die Sendepause nicht mehr währen. Denn Regierungschef Zhu Rongji will den Großeinsatz in Xiamen als seinen wichtigsten Sieg in der Korruptionsbekämpfung feiern. Er hatte zuvor seinen Rücktritt angedroht, sollte die Partei nicht gegen Lai einschreiten.

So wirkt die Aufdeckung des Skandals aus Xiamener Sicht weniger als Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung denn als Ergebnis Pekinger Machtpolitik. „Es ist ein Krieg zwischen Peking und Xiamen“, meint der Bauleiter. „Und bei einem Krieg leiden zuallererst immer die normalen Leute.“ Er selbst müsse dabei allerdings zugeben, dass er schon nicht mehr zu den ganz normalen Typen gehört. Ihn adelt nämlich eine Einladung von Schmugglerkönig Lai ins „Red Mansion“. Das war sein Privatclub, in dem er vor seiner Flucht nach Australien seine Verbündete verwöhnte. Dort gab es gutes Essen und junge Mädchen. Doch weiter geht die Erzählung nicht. „Dumme Politik, sie ändert sich jeden Tag“, schimpft der Bauleiter und bietet eine Zigarette an. „Die Zigarette ist immer der erste Schritt. Damit beginnt die Beziehung. Und nichts geht ohne Beziehungen.“ Er raucht eine gute Marke.