Wenn der Postmann keucht

Die 35-Stunden-Woche gefährdet zahlreiche mühsam erkämpfte Errungenschaften der französischen Arbeitnehmer – längst nicht nur im Postgewerbe ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Eine Briefträgerin, die bislang ihre Runde in 39 Stunden die Woche dreht, soll künftig schneller laufen, um ihre Post zuzustellen. Ein Metallarbeiter, der seit Jahrzehnten die Stechuhr tätigte, bevor er in Blaumann und Schutzschuhe schlüpfte, soll das Umziehen fortan als Teil seiner „Freizeit“ betrachten. Und eine Verkäuferin soll bei besonders großem Kundenandrang auch mal 48 Stunden lang pro Woche in der Boutique bleiben. Das sind Szenen aus dem neuen Frankreich, wo gegenwärtig Patrons (Arbeitgeber) und Gewerkschaften um die konkreten Bedingungen der am 1. Februar beginnenden „Arbeitszeitverkürzung“ feilschen. Ab kommenden Dienstag müssen alle Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten die Reform umsetzen. Kleinere Unternehmen haben dazu noch bis Anfang 2002 Zeit. Das Gesetz wurde gerade von Staatspräsident Jacques Chirac abgesegnet, nachdem es vom Verfassungsgericht – mit einigen Veränderungen – Mitte Januar als rechtens erklärt wurde.

Formal betrachtet, hat die rot-rosa-grüne Regierung in Paris damit ihre große Reform geschafft. Bloß ist auf dem zweieinhalbjährigen Verhandlungsweg wenig von den ursprünglich von den linken Parteien angekündigten sozialen Verbesserungen übrig geblieben. Was einst als radikale Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Wochenstunden angekündigt und mit der Einführung der 40-Stunden-Woche unter der Volksfrontregierung von 1936 verglichen wurde, sieht heute mehr nach einer gigantischen Umorganisation im Sinne der Patrons aus.

Zwar behauptet Arbeitsministerin Martine Aubry, es seien 120.000 Arbeitsplätze durch die Reform entweder „erhalten“, oder „neu geschaffen“ worden. Gewerkschaften, Patrons und Wirtschaftsministerium widersprechen in seltener Einigkeit: Die neuen Arbeitsplätze seien ein Resultat des unerwartet hohen Wirtschaftswachstums. Bei der Einführung der „réduction du temps de travail“ – „RTT“ – die in jedem Betrieb einzeln ausgehandelt wird, konnten viele Patrons Forderungen durchsetzen, die sie seit Jahren vergeblich anstrebten. Dazu gehört die flächendeckende Einführung einer „Jahresarbeitszeit“, die je nach Bedarf des Unternehmens flexibel auf die Wochen umgerechnet werden kann. Eine verlässliche Wochenarbeitszeit wird künftig nur noch eine Minderheit haben. Aber auch zahlreiche andere erkämpfte und in Tarifverträgen fixierte Errungenschaften gehen über Bord. Beispiele sind bezahlte Frühstückspausen, bezahlte Anwesenheitszeiten im Betrieb, während derer der Beschäftigte „untätig“ bleibt, und zusätzliche Urlaubstage für langjährige Betriebszugehörige.

Jene Patrons, die bereits in der ersten Phase Verträge zur Arbeitszeitverkürzung aushandelten, bekommen zusätzlich staatliche Unterstützungen, die von jährlich 1.200 bis 6.500 Mark (4.000 bis 21.500 Franc) pro Arbeitsplatz in ihrem Unternehmen reichen und langfristig gezahlt werden.

Die Gewerkschaften sind derweil froh, wenn sie die Lohneinfrierungen niedrig halten. Einzelne Gewerkschafter sprechen bereits von einem „sozialen Rückfall um 50 Jahre“. Ihre Kritik richtet sich nicht gegen das Prinzip der Arbeitszeitverkürzung an sich, sondern gegen die Modalitäten ihrer Einführung.Die beiden von Arbeitsministerin Aubry formulierten Gesetze – das erste für die „Einführungsphase“ trat bereits im Juni 1998 in Kraft – lassen weitgehend das freie Spiel der Kräfte walten. Sie schreiben lediglich vor, dass die Jahresarbeitszeit 1.600 Stunden nicht überschreitet. Ob die durch kürzere Wochenarbeitszeiten oder längere Urlaubszeiten erreicht wird, ist Verhandlungssache. Selbst die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im Zuge der Arbeitszeit ist eine Kann-Bestimmung. Das Kräfteverhältnis fällt in den allermeisten Fällen zugunsten der Patrons aus, wenn in einem Land nur zehn Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, ganze Branchen, wie der Einzelhandel, vielfach nicht einmal Betriebsräte haben und die wenigen Gewerkschafter auch noch auf vier große konkurrierende Organisationen verteilt sind – CGT, CFDT, FO und CFTC. Die größte Organisation der Patrons, der Arbeitgeberverband Medef, hat dem „staatlichen Dirigismus“ der Arbeitszeitverkürzung von vornherein den Krieg erklärt. Die französischen Fuhrunternehmer organisierten Mitte Januar sogar einen Streik dagegen, womit sie binnen zwei Tagen eine Ausnahmeregelung für ihre Branche erreichten. Trotz der üppigen finanziellen Vorteile haben bislang nur 80 Prozent der französischen Unternehmen Abkommen ausgehandelt.

In zahlreichen Betrieben ist die Einführung der „Arbeitszeitverkürzung“ seit Ende vergangenen Jahres von Streiks begleitet. Selbst Arbeitsministerin Aubry, der auch das Ressort Gesundheit untersteht ist – als Patronne – davon betroffen. In zahlreichen französischen Krankenhäusern beklagen die Belegschaften, dass die Arbeitszeitverkürzung nicht von genügend Neueinstellungen begleitet ist.

Bei der französischen Post erklärte in dieser Woche ein Gewerkschafter: „Wenn von 39 auf 35 Stunden reduziert wird, ohne entsprechend viele Neueinstellungen, ist etwas faul. Es bedeutet, dass wir dieselbe Arbeitsmenge künftig in kürzerer Zeit erledigen.“ Die Briefträger befinden sind bereits im Streik.

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