Die Moral und das Recht

Beim Karlsruher Leichtathletikmeeting ist die abwesende Sprinterin Merlene Ottey das Thema Nummer eins ■ Von Frank Ketterer

Karlsruhe (taz) – Irgendwo auf der A 5, nicht weit entfernt vom Darmstädter Kreuz, soll es gewesen sein, dass am späten Freitagabend das Handtelefon von Merlene Ottey zu piepen begann. Daniel Zimmermann, der Manager der Sprintdiva aus Jamaika, meldete sich am anderen Ende der Funkverbindung, und was er seinem Star, gerade aus dem spanischen Madrid eingeflogen, mitzuteilen hatte, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Auf keinen Fall weiterfahren nach Karlsruhe, Start beim dortigen Hallenmeeting abgesagt, sofort nach Liechtenstein kommen.

Dort befindet sich der Sitz von Zimmermanns Firma, und dort dürften auch jene Sätze formuliert worden sein, die tags darauf als Otteys persönliche Erklärung unters deutsche Leichtathletikvolk gestreut wurden: „Ich habe erfahren, dass es als Folge der massiven Drohungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes unmöglich sei, beim Meeting in Karlsruhe an den Start zu gehen“, war da zu lesen. Und: „Ich bin über das Verhalten des DLV und seines Präsidenten Prof. Digel zutiefst schockiert. Dass Herr Digel das Publikum sogar auffordert, mir ‚die Quittung‘ zu geben, ist ein unerhörter Angriff auf meine Person. Ich behalte mir alle juristischen Schritte gegen den DLV und seinen Präsidenten vor.“ Otteys Erklärung war der (vorläufige) Schlusspunkt einer Affäre, die vor genau einer Woche damit begonnen hatte, dass Siegfried König, Meeting-Direktor des Leichtathletik-Meetings in Karlsruhe, bekannt gab, er habe die Jamaikanerin als Zugpferd für seine Veranstaltung verpflichtet.

Für viel Unruhe hat das gesorgt, weil Frau Ottey mit 14 Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen nicht nur als eine der erfolgreichsten Leichtathletinnen aller Zeiten gilt, sondern seit Sommer letzten Jahres auch als des Dopings verdächtig. Nach einem Sportfest in Luzern am 5. Juni war im Urin der schnellen Dame reichlich Nandrolon gefunden worden, jenes anabole Steroid also, dass auch Dieter Baumann derzeit so viel Kummer bereitet. Anders aber als der Langstreckler aus Schwaben wurde die Kurzstrecklerin aus Jamaika von ihrem nationalen Verband nicht gesperrt, sondern frei von aller Schuld gesprochen. Zwar wird beim Leichtathletik-Weltverband IAAF derzeit geprüft, ob der Fall Ottey vor das Arbitration Panel, das oberste Schiedsgericht, gebracht wird. Das aber kann dauern, und genau so lange gilt die 39-Jährige als nicht suspendiert und international startberechtigt.

Eine Lücke im Regelgeflecht ist das, die die Karlsruher Veranstalter nutzten, um eine medienträchtige und publikumswirksame Attraktion an Land zu ziehen. „Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Doping nicht zum Sport gehört“, richtete Meeting-Direktor König am Samstag das Wort an die 5.000 Zuschauer in der Karlsruher Europahalle, „aber ein Athlet, der von unabhängigen Experten freigesprochen wird, muss auch die Möglichkeit haben, zu starten.“ Für IHM-Manager Günter Wohlfart hat die Sache auch mit der Frage zu tun, „ob einer die Moral oder das Recht in den Vordergrund stellt“. Für Unrecht hält Wohlfart auf jeden Fall, dass DLV-Präsident Digel den geplanten Ottey-Start schon während der Woche als „peinlich, skandalös und empörend“ geächtet und offen zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen hatte. Für „mächtig Wirbel“ habe dies gesorgt, nicht nur bei den Sponsoren. „Im Umfeld und auf unserer Internetseite gab es teilweise militante Reaktionen“, sagte Wohlfart, bis hin zu persönlichen Drohungen gegen Mitglieder des Organisationskomitees.

Gemessen an dem Trubel im Vorfeld, verlief das Meeting ruhig, obgleich Merlene Ottey allgegenwärtig war, auch bei vielen Athleten. „Es war schwachsinnig, dass man sie überhaupt eingeladen hat. Sie war doch positiv getestet“, fand beispielsweise Stabhochspringerin Yvonne Buschbaum klare Worte. Hürdensprinter Frank Balzer deutete Otteys Absage immerhin als Zeichen dafür, „dass sie, im Gegensatz zu anderen Menschen, wenigstens Stil hat“.