Mäandern im Kleinen

■ Mikrokosmen, Kinderblicke und vom Leben gezeichnete Lederjacken beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken

Und es gibt sie doch, auch bei uns, diese Gesichter, die so viel Geschichte haben, dass einem ganz schummrig werden kann. Man vergisst sie, bis sie irgendwann auf der „Was macht eigentlich ...?“-Seite im Stern auftauchen oder bis jemand einfach einen Film mit Karin Baal dreht. Das ist die, die sich 1956 in „Die Halbstarken“ die Pistole schnappte und Horst Buchholz erschoss, weil er sich als Weichei entpuppt hatte. Fassbinder, der wahrscheinlich das beste Gespür für halb vergessene Schauspieler hatte, gab ihr Ende der 70er zwei kleine Rollen in „Lola“ und „Lili Marleen“, die Karin Baal so spielte, dass man plötzlich wieder „die Baal“ sagte.

Beim Max-Ophüls-Festival war die Baal in der Jury, und mit ihrem champagnerfarbenen Ensemble aus Mantel und Pelzmütze brachte sie ein bisschen Grandezza in ein Filmfestival, das seinen Charme ansonsten aus schnoddrigen Nachwuchsregisseuren zieht, die mit verquollenen Äuglein und in abgeschabten Lederjacken zur Vorstellung schlurfen.

Die Baal war beim Ophüls-Festival auch in einem Kurzfilm zu sehen, „Kehrwoche“, von Kerstin Ahlrichs, wo sie als Hauswartsfrau so ergeben und resigniert neben dem Putzeimer auf der Treppe kniet, als habe sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als den Dreck anderer Leute wegzuschrubben. Ausgerechnet dieser getretenen Figur platzt eines Tages der Kragen, sie packt ihre Schildkröte ins Handtäschen und verschwindet, nicht ohne zuvor das Mietshaus mitsamt seinen undankbaren, verschlampten Bewohnern in Brand zu setzen – was man innerhalb des Festivals durchaus als emblematischen Akt sehen kann. Loser, so genannte Randfiguren, Herumwurschtler und verkrachte Existenzen, die das wenige, was ihnen das Leben zu bieten hat, an der Umtauschtheke zurückgeben, tauchten immer wieder, zumal in den wenigen guten der 17 Wettbewerbsfilme auf.

Fix-und-Fertiges erwartet man gar nicht auf einem Nachwuchsfestival, eher die ersten halb garen oder auch großkotzigen oder einfach sympathisch gescheiterten Versuche, und wenn dabei noch irgendein Anliegen durchscheint, freut man sich mit den Jungschen über ihren allerersten Schlussapplaus und über die schüchtern hervorgedrucksten Dankesworte.

In diesem Jahr gab es in Saarbrücken auffällig häufig den Rückzug in skurrile Binnenbiotope und bunte Kinderalben. Da sehnen sich wehmütige Off-Stimmen nach der Zeit, in der alles anfing, die Kamera fährt durch grüne Erinnerungslandschaften, und alles scheint weit, weit weg und sehr persönlich. Ein neuer Trend scheint auch die undefinierbar vor sich hin mäandernde Geschichte. Zum Beispiel „Grosse Gefühle“ aus der Schweiz, ein Menschen-um-die Dreißig-Potpourri mit ungefähr zweihundert uninteressanten Inserts („Eva, 24, glaubt an die Liebe und hasst Soziologie“) oder „Kismet“ von Andreas Thiel und Kai Hensel mit seinem Menschen-streunen-durch-die-Nacht-Existenzialismus (und, immerhin, einer spektakulären Dackelexekution). Oder „Holgi“, die Geschichte eines bösen Jungen, Genreparodie oder Thriller oder Drama des begabten Kindes oder was auch immer und so harmlos, dass man sich abends beim Zappen keine fünf Sekunden dabei aufhalten würde.

Dann doch lieber die Typen, die in Hannu Salonens „Downhill City“ mit 50 noch bei ihrer Mutter wohnen, Pizzas ausliefern und ihr Selbstverständnis immer noch aus dem großen, erfolgreichen Roman ziehen, den sie irgendwann, ganz bestimmt, schreiben werden. Berlin sieht ziemlich heruntergekommen aus in diesem Film, die Hinterhof-Topografie einer unwirtlichen Stadt, in der man sich, wie die einsame Franka Potente, an einen noch einsameren dünnen finnischen Musiker kuscheln muss, um zu überleben.

Die größte Loserversammlung dieses Jahrtausends hat sich allerdings auf einem ostdeutschen Campingplatz versammelt, „Tolle Lage“, irgendwo in der Umgebung von Rügen. Arbeitslose, Säufer, ein Sänger, dessen große Zeit vorbei ist oder nie stattgefunden hat, ein abgewrackter Gelegenheitsbankräuber und jede Menge Dauercamper bilden so etwas wie einen bundesrepublikanisch-deutschen Mikrokosmos. Hin und wieder entringen sich der allgemeinen Lethargie des Ortes kleine Dramen vielfältigster Ursache: Ärger über die im Kiosk vertriebenen vierzehn Jahre alten Kekse aus Bundeswehrbeständen, Kuhinvasionen von der nahe gelegenen Weide oder die permanenten Rassismen, mit denen der Platzpächter seinen aus Vietnam stammenden Angestellten und Schwiegersohn terrorisiert. Die Grenzlinie zwischen Ost und West verläuft hier zwischen Sparwasser und Schumacher, die zwischen Oben und Unten hat sich aufgelöst, weil der Campingchef aus dem Westen genauso pleite ist wie das Ost-Völkchen, das er tagtäglich mit kleinen Deals übers Ohr haut. DFFB-Absolvent Sören Voigt kriegt seine widerspenstigen Figuren mit einer hyperaufmerksamen Handkamera in den Griff, und er hat auch ein Gespür dafür, dass ein Kuhmord dem deutschen Film viel besser steht als eine epigonal-amerikanische Schießerei unter Menschen.

Von den vielen Kindheitsgeschichten ragte immerhin eine über den infantilen Sehnsuchtshorizont hinaus. In Hendrik Handloegtens „Paul is dead“ steigert sich ein 12-Jähriger Anfang der 80er in eine Beatles-Verschwörung hinein: Paul McCartney, so die mit hieb- und stichfesten Indizien (unter anderem dem Cover des „Abbey Road“-Albums und einer kompromittierenden Songzeile aus „Strawberry fields forever“) belegte These, starb 1966 bei einem Verkehrsunfall und wurde durch ein Double ersetzt. Für den Kleinen wird McCartneys Tod zu einer Glaubensfrage, wobei die Aufgeregtheit, mit der er seine Sache vertritt, zu einem allumfassenden Gefühl des Unverstandenseins führt, das wahrscheinlich so etwas ist wie die Quintessenz von Kindheit. Vor allem aber ist Handloegtens Film eine unglaublich liebevolle Rekonstruktion der 80er – Nesquick auf Toast, Wim Thoelke, original Hörzu-Schilder, vorsintflutliche Kassettenrekorder. Und wieder ist ein Film der letzten Seite des Stern zuvorgekommen: Mit Ingrid „Dann mach’ ich mir ’nen Schlitz ins Kleid“ Steeger in der Rolle einer Zeitungsverkäuferin schwebt doch tatsächlich für einen Augenblick der durchgeknallte Geist von „Klimbim“ über die Leinwand. Katja Nicodemus