Der Politologe Klaus von Beyme zur Rolle von Johannes Rau
: Präsident zur falschen Zeit

In Krisenzeiten ist die moralische Autorität des deutschen Bundespräsidenten gefragt. Gerade weil er ein so machtloses Staatsoberhaupt ist, hat er bei Skandalen wie der CDU-Spendenaffäre einen unschätzbaren Vorteil: Er ist der geborene Vermittler bei der Selbstreinigung des politischen Systems. In der Flick-Affäre hat der damalige Amtsträger Richard von Weizsäcker diese Mittlerrolle recht erfolgreich gespielt. Eine Kommission von Experten wurde eingesetzt, um die Neuordnung der Parteienfinanzierung zu beraten. Auch Johannes Rau hat diese Aufgabe in die Hand genommen – freilich mit weniger moralischer Autorität als einst von Weizsäcker.

Rau ist durch die Skandale in Nordrhein-Westfalen belastet. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich von den Vorwürfen etwas erhärten lässt. Aber in diesen Fällen ist der kleinste Vorwurf von Gewicht, selbst wenn nur Bagatellen herauskommen, wie bei der früheren Bundestagspräsidentin Süssmuth, die nach einer Dienstreise im Hubschrauber noch einen Besuch bei ihrer Tochter angehängt hat. Bei solchen Kleinigkeiten darf man für Erbarmen mit der politischen Klasse plädieren. Wichtige Amtsträger haben einen 16- bis 18-Stunden-Tag. Wenn sie sich ein wenig an privater Freude zum Wiederauftanken der Kräfte erlauben, sollte man nicht zimperlich sein. Aber unsere Amtsträger verspielen diese öffentliche Milde häufig, weil sie die kleinen Vergünstigungen erst einmal abstreiten. Das Belügen des Parlaments wird in solchen Fällen das eigentliche Delikt.

Rau ist aber auch sonst in dieser Krise nicht mit den besten politischen Karten ausgestattet. Es bleibt das Odium, dass er aus dem Amt des Ministerpräsidenten von Düsseldorf in das höchste Amt der Republik fortgelobt worden ist. Selbst wenn er mit den Unregelmäßigkeiten in Nordrhein-Westfalen nichts zu tun gehabt haben sollte, sehen ihn viele als damals politisch mitverantwortlich an. Es ist misslich, wenn ein Präsident jetzt den Rückzug der Parteien aus vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen anmahnt, die er seinerzeit in Nordrhein-Westfalen toleriert hat. Schließlich gab es im Revier ein ganz legales „System“ einer zu engen Verknüpfung von Wirtschaft und Politik. „Cliquen, Klüngel und Karrieren“ hat der Soziologe Erwin Scheuch das in einem Bestseller seinerzeit genannt.

Die Amtsführung des jetzigen Bundespräsidenten wirft aber weitere Fragen auf, die das ganze System der Führungsauslese betreffen. Die SPD hatte damit ja immer schon besondere Schwierigkeiten. Wo Kohl drei Niederlagen einsteckte, bis er ins höchste Regierungsamt gelangte, neigt die SPD zum Elitenverschleiß. Rau hätte bei der Einigungswahl 1990 als Kanzlerkandidat trotz der Niederlage bei der vorangegangenen Bundestagswahl erneut aufgestellt werden müssen. Es war die Zeit, da die „sanfte DDR-Opposition“ für Raus Führungsstil mit Bibelzitaten durchaus aufgeschlossen schien. Stattdessen wählte man Lafontaine als Kandidaten, der am wenigsten offen für eine rasche Einigung schien. 1998 schien es, dass der SPD eine ideale personelle Kombination in den beiden wichtigsten Ämtern gelungen sei: der „Macher“ an der Regierungsmacht – der „Versöhner“ im Bundespräsidialamt. Aber es spricht manches dafür, dass Rau zu spät in eines der beiden wichtigen Ämter gelangt ist. Sein Stil eines Moderators wird von den Medien nicht mehr gut aufgenommen. Seine Schlichterrolle im gegenwärtigen Skandal ist durch zu lange Verknüpfung mit den alten Systemen nicht genügend Vertrauen erweckend.

Eigentlich wären die Chancen des Mittlers im gegenwärtigen Spendenskandal gut: Wenn der Präsident mit großer Fairness gegenüber der anderen Partei, die ihn nicht gewählt hat, agiert, so steigert das sein Ansehen. Aber Fairness und Milde in der gegenwärtigen Situation werden gleich missverstanden. Es wird in diesem Fall unterstellt, dass der Präsident selbst bei der Untersuchung der ihm zur Last gelegten Unregelmäßigkeiten auch auf Milde der jetzigen Opposition hofft. Die gegenwärtige Krise ist eine Parteienkrise und keine Staatskrise. Aber die Zwickmühle, in welche Johannes Rau geraten ist, kann Aspekte einer Staatskrise in sich bergen, die zu der Frage führt: ob der richtige Mann zur Zeit auch am richtigen Platz ist. Klaus von Beyme

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Heidelberg