Staatsfeind Nummer zwei

Wenn es im Ostblock nicht mehr viel zu spionieren gibt, kann man sich der Wirtschaft zuwenden, dachten die USA – und schnüffeln in der EU ■ Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Amerikanische Geheimdienste setzen ihr gewaltiges technisches Arsenal nicht nur ein, um Saddam Husseins Privatleben auszuforschen oder Telefongespräche nach Kuba zu überwachen. Schon länger gibt es Gerüchte, dass die USA auch die europäische Wirtschaftskonkurrenz beschnüffeln. Erstmals liegt dem Europäischen Parlament nun ein Untersuchungsbericht vor, der Wirtschaftsspionage weltweit genau unter die Lupe nimmt.

Seit 1993, so geht nun aus der Studie hervor, werden die mit Ende des kalten Krieges freigewordenen Kapazitäten der amerikanischen Geheimdienste fast ausschließlich für Wirtschaftsspionage eingesetzt. Bereits 1977 haben CIA, die nationale Sicherheitsagentur NSA und das US-Handelsministerium einen systematischen Nachrichtenverbund aufgebaut. Sobald die Nachrichtendienste auf Informationen stoßen, die für bestimmte amerikanische Firmen von Interesse sein könnten, werden sie automatisch über das Handelsministerium an die zuständigen Manager weitergeleitet.

Nach Erkenntnis der Studie nutzen alle größeren Staaten routinemäßig geheimdienstliche Mittel, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Zwischen 15 und 20 Milliarden Euro werden dafür jährlich weltweit ausgegeben. „Marktführer“ allerdings sind die Amerikaner. Sie durchkämmen systematisch die weltweit verbreitete digitale Informationsflut – sei es per Satelit, per Unterwasserkabel, per Radar oder via Internet.

Dabei kommt ihnen eine andere amerikanische „Marktführerschaft“ zu Hilfe. Die US-Exportvorschriften für Informationstechnik verbieten, dass Produkte für den europäischen Markt – zum Beispiel Personalcomputer – mit Verschlüsselungssystemen ausgestattet werden. Wer bei Bill Gates einkauft, hat seine E-Mails damit schon automatisch beim amerikanischen Geheimdienst abgeliefert.

So ging es etwa dem europäischen Airbus-Konsortium, das Anfang der 90er-Jahre mit der saudischen Regierung über die Lieferung von Flugzeugen für Saudi-Airlines in Verhandlungen stand. Die Nationale Sicherheitsagentur der USA hatte Zugang zu allen Faxen und Telefongesprächen und konnte die Höhe des Angebots und alle Schmiergeldbeträge an Boeing und McDonnell Douglas weiterreichen. Boeing machte ein niedrigeres Angebot – und bekam den Zuschlag für das Sechs-Milliarden-Dollar-Geschäft.

1994 hörte die Nationale Sicherheitsagentur Telefongespräche zwischen Thomson und der brasilianischen Regierung ab. Es ging um eine Anlage zur Regenwaldüberwachung, Preis: 1,3 Milliarden Dollar. Auch Daten über den Schadstoffstandard neu entwickelter japanischer Autos oder über französische Strategieabsprachen für die Gatt-Verhandlungen erreichten so die interessierte Konkurrenz.

Eine schizophrene Rolle im weltweiten Informationsklaugeschäft spielt der britische Secret Service, der kleine Bruder vom mächtigen CIA. Wie erst vor einem Jahr bekannt wurde, schlossen die USA und Großbritannien schon 1947 ein Geheimabkommen zur internationalen Kommunikationsüberwachung. Später beteiligten sich andere englischsprachige Länder wie Australien, Kanada und Neuseeland. In Großbritannien stehen bis heute zwei große Satelitenanlagen, die elektronische Kommunikation einfangen und systematisch nach bestimmten Schlüsselwörtern durchkämmen.

In einer ersten Reaktion auf den Bericht hat Paul Lannoye, Sprecher der Grünen im Europaparlament, die Parlamentspräsidentin aufgefordert, das Thema ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Eine Erklärung seitens der Kommission und des Europäischen Rates mit anschließender Debatte im Parlament sei dringend geboten. Die Tatsache, dass ein EU-Mitglied in den Skandal verwickelt sei, schaffe eine heikle politische Situation.

Diese Einschätzung teilt Howard Teicher, ehemaliges Mitglied im US-amerikanischen nationalen Sicherheitsrat, ein Kronzeuge für den EU-Report. Offiziell werde keine der in England aufgebauten Überwachungsanlagen genutzt, um Informationen des Gastgeberlandes auzuspionieren. „Aber ich würde niemals dafür meine Hand ins Feuer legen – nationale Interessen sind eben nationale Interessen“.