Wo sich Gott und Allah guten Tag sagen

Wochentags ist es geisterhaft still in den Hallen, am Kanal, in Treptow. Am Wochenende verwandeln sie sich zu einem Flohmarkt mit reichlichMultikulti und Ganoventum. Hier wirkt auch ein besonders unruhiger Geist: Felix, der wohl schüchternste Händler Berlins ■ Von Franziska Reich

Auf Märkten wird gehandelt, geklaut und manchmal auch ein bisschen gegaunert. Seit der Zeit, als Geister am liebsten in Flaschen hausten, haben sich Edelmann und Ganove, Mutter und Hure, Gott und Allah immer auf Märkten getroffen. Und auch heute noch feilschen und kaufen, streiten und stehen sie einmal in der Woche zusammen: auf dem Flohmarkt in den Treptower Hallen, Berlin.

Felix klettert gern über Dächer, vor ein paar Wochen über die von Köpenick. Da begegnete ihm eine blaue Emailschüssel. Er hob sie an, und der Mann in der Wohnung darunter brüllte zum Fenster hinaus: „Lass stehen! Es regnet rein!“ Da stellte Felix die Schüssel zurück, stieg vom Dach und die Treppen zur Wohnung des Mannes hinauf.

Der stand in Bergen von Sachen, die sein Vater seit den 30er-Jahren gesammelt hatte. Er jammerte laut, denn der Vater hatte zu viel hinterlassen: DDR-Lebensmittel, Herrenanzüge, Vasen und Nachthemden, Stifte und Zeitschriften. „Nimm alles“, flehte der Mann, „hole einen Laster und schaff es hier raus!“ Und so rannte Felix los und sprang in die Luft, denn er hatte das Paradies entdeckt. Das Paradies für den, der in den Treptower Hallen einen Stand besitzt. Darauf rauchte Felix erst einmal ein Pfeifchen.

Wochentags ist es geisterhaft still in diesen Hallen. Sie liegen am Kanal, gerade eben in Treptow, nur 100 Meter entfernt von Kreuzberg. Zu Ostzeiten haben hinter den Backsteinmauern ölverschmierte Männer im Blaumann Riesenreifen auf Riesenfelgen gezogen, Riesenbremsbeläge gewechselt und Riesenauspuffrohre montiert. Das alles ist längst abgewickelt, die 4.000 Quadratmeter Werkstatt sind 2.000 Quadratmetern Freifläche und 2.000 Quadratmetern Flohmarkt gewichen, davon 10 Quadratmeter Felix.

Felix mit dem kastanienbraunen Haar, den schmutzigbraunen Händen, den mokkabraunen Augen ist wohl der schüchternste Flohmarkthändler überhaupt. Er steht immer im Nebengang. Und wenn es regnet, dann freut sich Felix, denn dann kommen die Menschen in Scharen, fallen ein durch die Tür aus grauem Metall in die Haupthalle, fallen her über die Berge von Jacken und Platten, über Rohrsysteme, Muffen, Kabel und kristallene Karaffen, Computer, Handys, Feuerzeuge und Schuhe. Das sind die brauchbaren Stücke – die Stars der Stände. Die Groupies: Wecker ohne Zeiger, Schrauben ohne Schlitze, Nägel ohne Spitze, Zangen ohne Greifer und Töpfe ohne Henkel.

In den hintersten Ecken der Hallen sind die finstersten Stände der dunkelsten Typen, die sich um die Tische drücken und leise Zahlen wispern. „Die Lampe?“ „Zwei für ’n Fünfer“, flüstert es. „Der Anrufbeantworter?“ „Zwanzig“, zischt es. „Zu viel.“ „Ist neu“, raunt es. Anrufbeantworter sind risikolos. Sie haben keine Registriernummer.

Hier wird verkauft, was lange moderte, vergessen war, versteckt oder verloren. Der Computer ist vom Lastwagen gefallen. Und die Uhr der Großmutter vom Handgelenk gerutscht. Oder ererbt. Die Stiefel sind von der Tochter der Freundin der Tante der Ehefrau, die letzte Woche an Blutkrebs verstarb.

„Das sind genau meine Stiefel!“, sagt eine junge Frau ohne Blutkrebs. „Das sind original die, die ich habe, Mike.“ Mike brummt: „Nein, gar nicht.“ „Doch genau die, und hier kosten sie nur 40 Mark.“ „Dann ist dein Leder besser.“

Eine kleine, rundliche Frau mit Kopftuch und signalrotem Anorak zählt hinter den Regalen ihr Geld. Unter der Woche macht sie in Pelzen, am Wochenende in Schuhen. „Suchen Sie etwas Bestimmtes? Ich kennte helfen mit die Schuhe“, bietet sie an in ihrem sanften masurischen Akzent. Jedes Wochenende kommt sie mit ihrer Tochter und hofft auf schlechtes Wetter. Die Cowboystiefel gehen am besten, sagt sie. Und wenn sich der Nachmittag zum Abend senkt, kommt sie wie immer der Mann besuchen. Sie weiß seinen Namen nicht, weiß nicht, wer er ist und wer ihn schickt. Doch das eine weiß sie: Dieser Mann will Geld.

Er steht im Moment in der Nachbarhalle, an einem braunen Resopaltisch vor dem Imbisswagen, bei dem Chicken-Wings nur 3,50 Mark kosten. Er ist der Chef der Halle und heißt Eberhard Staritz. Lässig raucht er eine Zigarette nach der anderen und lässt sich von seinen vier Helfern berichten, wie das Geschäft mit den Marktständen läuft.

„315 hat zuletzt im Dezember bezahlt.“ „Ja, siehste, dann ham wa doch ’n Stand.“ „Nein, das ist sowieso Freifläche.“ „Dann gehn wa halt die Liste noch mal durch.“ Ein Herrscher hat seinen Hofstaat geladen: vier Lakaien, die an seinen Lippen hängen. An den Lippen des Sonnenkönigs der Treptower Hallen, des Gebieters über Stand und Miete.

Eine Woge heißen Frittenfetts dünstet vom Imbissstand herüber. Seit vier Jahren treffen sie sich am Sonntag vor dem Imbiss in der hinteren Halle, um zu verwalten, zu organisieren, zu kassieren. Sie sind die Betreiber des Flohmarkts. Früher sagte man, der Boden der Scholle sei fruchtbar. Heute sagt man, der Standort habe Vorteile. Das behaupten diese Männer von den Treptower Hallen.

„Es entstehen Synergien“, sagt König Eberhard Staritz, „mit Kreuzberg so nah wird das hier zum Istanbulmarkt. Multikulti eben.“ Der andere Grund, warum diese Scholle so fruchtbar ist: hier folgt das Angebot der Nachfrage. Vor allem dort, wo Licht nur eine Ahnung ist, Schritte hallen und Stimmen wispern.

„Ich will ein Fahrrad.“ „Ham wa nich.“ „Ich zahl 500.“ „Ham wa doch. Welche Farbe?“ „Schwarz.“ „Kette oder Nabe?“ „Kette.“ „Ruf Sonntag an.“

Multikulti und Ganoventum. Das suchen die Menschen, die wochenends die Treptower Hallen stürmen. Dafür strömen und stoßen und schubsen sie zu zehntausenden über den grauen, öligen Beton. Sie sind so verschieden wie die Ware auf den Tischen – das Twingo-Pärchen, die türkische Mutter, der Piercing-Punk, die Szene-Yuppies und die von der Räucherstäbchenfraktion.

Die Dame in Rosé steht schon seit Monaten. Ihre Brust ist kaum verhüllt – so tief reicht ihr Dekolletee. Ihr Mund ist so klein, so rot, so lächelnd, wie ihre Hände grazil sind. Sie hat zu lange hier gestanden – ist eben keine echte Barbie –, und so harrt sie aus in ihrer schmierigen Plastikbox. Jede Woche fällt ihr Preis. Heute kostet sie acht Mark. Wenn sie fünf kostet, ist sie ein Schnäppchen.

Bei Felix kostet das meiste fünf Mark: das DDR-Bastelbuch mit Pitti Platsch und Schnatterinchen, die Kanne mit dem zerbrochenen Deckel und die lang gezogenen, bunten Hühner, in deren Mitte ein Ei sitzen kann. Im Metropolitan Museum in New York zahlen die DDR-Design-Vernarrten 65 Dollar. „Ich komm von der Straße. Ich weiß, wie viel eine Mark ist. Verdammt viel“, sagt Felix. Fünf Mark sind fünfmal so viel wie verdammt viel. Er verkauft alles billig, weil er alles findet, und er findet so viel, weil er immer sucht. In Bauschuttcontainern, in leer stehenden Häusern, in Mülleimern.

Ein kleiner Mann in Lederjacke hält eine Super-8-Kamera hoch, schreit: „Wie viel?“ Ein dicker Mann in Häkelmütze brüllt: „Achzsch Makk“, ein Japaner mit Brille ruft: „Höchstens zehn.“ „80 Makk“, sagt Häkelmütze. „Zehn“, sagt Brille. „Zwanzig“, sagt Lederjacke. „Halt“, brüllt Häkelmütze. „Ich?“, fragt eine junge Indio-Mütze. „Ist deine?“, fragt Häkelmütze und zeigt auf die Kamera an der Schulter der Indio-Mütze. „Ist mein“, sagt Indio-Mütze. „Wieso?“ fragt Häkelmütze. „Weil du keine Kameras mit Film drin verkaufst“, sagt Indio-Mütze.

Felix ist ein unruhiger Geist, läuft umher wie ein bedächtiger Tiger, streicht hier über den Lampenschirm, zupft dort die Handschuhe zurecht, poliert den Kerzenständer, ordnet die Preziosen im Glaskasten. Dann raucht er erst einmal ein Pfeifchen. Felix ist ein liebender Geist, der streichelt, was er besitzt, weil es noch kein anderer besitzen will. Er ist ein künstlerischer Geist, der sich der Kunst widmen wird, wenn er genug verkauft hat. Das, was funkelt, gehörte einst der Geliebten seines Vaters: glitzernde, gleißende Klunker – Riesendiamanten, die sie an manchen Abenden zur Ballkönigin werden ließen. Sie ist nicht tot, sie lässt sich nur scheiden, und deshalb erlaubte der Vater dem Sohn, ihre Sachen zu verscherbeln. Verdammt gute Sachen. Verdammt billig. Fünfmal so viel wie eine Mark ist verdammt billig.