Renaissance im Silicon Valley

Bill Gates besitzt den Codex Leicester von Leonardo da Vinci. Die Zeichnungen sind nun auf ihrer Museumstour in Berlin – mit Joseph Beuys als Support Act ■ Von Stephanie Tasch

Menschen, Bilder, Sensationen – die ortsansässige Wirtschaft trägt ihren Teil zur blühenden Kulturlandschaft bei. Kein Pfennig öffentliches Geld, sagen die Veranstalter stolz. Und erdrücken mit ihrer Begeisterung ein wenig den bescheidenen Veranstaltungsort: „Leonardo da Vinci – Joseph Beuys. Der Codex Leicester. Zeichnungen“ im Museum der Dinge (vormals Werkbund-Archiv) im Martin-Gropius-Bau, gesponsert von Debis und Microsoft, das hat den Charme des Unwahrscheinlichen. Ein Museum, das sich hauptsächlich mit Objekten aus der Sphäre des täglichen Lebens beschäftigt, zeigt Leonardo da Vinci im Nebeneinander mit zeichnerischen Reflektionen von Beuys, der sich dabei lose an einem weiteren (nicht ausgestellten) Skizzenbuch Leonardos orientiert hatte.

Nach München, dem Sitz von Microsoft Deutschland, ist Berlin die zweite Station der Ausstellung, und so verschafft das Corporate Sponsoring der Stadt der Corporate Architecture ein Gipfeltreffen: „Zwei der einflussreichsten Künstler aller Zeiten“ ehren den „reichsten Mann der Welt“. Und so trug Bill Gates, seit 1994 Besitzer der letzten auf dem Kunstmarkt zu erstehenden Handschrift Leonardo da Vincis, sein Kataloggrußwort im randvollen DaimlerChrysler-Atrium am Potsdamer Platz mit der gut trainierten Spontaneität vor, die man nach Ausstellungsstationen von Venedig, Mailand, Rom und Paris über New York, Seattle bis Lissabon erwarten konnte.

Was nach dem Kauf der Handschrift wahrscheinlich schien, ist nicht eingetroffen – dass das kostbare Stück dem Blick der Öffentlichkeit entzogen würde. Ganz im Gegenteil, Gates ist offensichtlich mit Übereifer darauf bedacht, den zwischen 1506 und 1510 entstandenen Codex der größtmöglichen Zahl Menschen in Europa und Amerika zu zeigen, jeweils eingebunden in eine ortspezifische Ausstellungskonzeption. Für die beiden deutschen Stationen lieh das DIA Center for the Arts in New York zusätzlich Zeichnungen, die Joseph Beuys 1974/75 als Grundlage für ein Skizzenbuch-Multiple geschaffen hatte. Die Bleistiftzeichnungen zu den 1965 wieder entdeckten Codices Madrid von Leonardo da Vinci stehen hier exemplarisch für die Faszination, die Leonardo auf Beuys ausübte.

Der Eröffnungsabend machte aber zugleich überdeutlich, dass die endgültige Kanonisierung von Beuys noch bevorsteht. Das Premierenpublikum ging angesichts der raumbedingten Warteschlangen mit einer durch keine unnötige Wertschätzung gebremsten Zielstrebigkeit vor: Man ließ die unschön auf rotem Grund präsentierten Beuys-Arbeiten links liegen und drängte in Richtung des Allerheiligsten. Nachdem Bill Gates zur „Wetten, dass“-Aufzeichnung entschwunden war, zählte nur noch das „Universalgenie“. Beziehungsweise seine Stellvertreter, die teuer bezahlten Seiten, die in konservatorisch begründeter Finsternis, in Hochsicherheitsvitrinen eingesargt, ihrer Betrachter harrten.

Technologiekonzerne lieben Leonardo. Schon 1989 zeigte die Hayward Gallery in London eine Ausstellung mit Leonardo-Zeichnungen, die von IBM finanziert wurde. Eine Auswahl hoch bedeutender Werke, u. a. aus dem Besitz der englischen Königin, die durch ein ererbtes Privileg über ein ganzes Konvolut von Leonardo-Papierarbeiten verfügt, wurde in eine Gegenüberstellung mit dreidimensionalen Modellen und Computeranimationen nach Leonardo eingebunden. Deutlich bescheidener ist dies auch in der Debis/Microsoft-Koproduktion möglich.

Die westliche Geschmacksgeschichte ist voller Beispiele, wie die Rezeption von Kunst und Künstlern unter sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen und ästhetischen Normen variierte. Auch bei Debis und Microsoft bastelt man sich seinen eigenen Leonardo. Dr. Klaus Mangold, Vorsitzender der DaimlerChrysler Services (Debis), verwandelte in seiner Rede den Hofkünstler par excellence, der im Dienste der Kirche wie des Adels unter anderem als Maler, Bildhauer, Ingenieur, Militärtechniker und Architekt tätig war, in eine Mischung aus kauzigem Silicon-Valley-Tüftler und Personaltrainer, dessen „unbändige Neugier“ man sich als Eigenschaft junger Mitarbeiter dringlich wünscht. Bill Gates’ Erwerbung indes schreibt die Geschichte des Codex fort, der seinen Namen dem Earl of Leicester verdankt, und wirft zugleich die Frage auf, was denn den Microsoft-Gründer an dem endlos forschenden und fragenden „Schüler der Erfahrung“ (Leonardo) faszinieren mag.

Leicester, ein bedeutender Sammler von Altmeisterzeichnungen, brachte die 18 gefalteten, beidseitig in Spiegelschrift beschriebenen Doppelblätter von seiner Bildungsreise, der grand tour, aus Italien mit. Bis 1980 blieb der Codex im Familienbesitz. Armand Hammer, der nächste Besitzer, taufte ihn „Codex Hammer“, eine Namensgebung, die Bill Gates glücklicherweise nicht fortführte. Historisch wandelt sich mit dem Übergang von Leicester über Hammer zu Gates allerdings der Typus des Sammlers – vom Kenner zum Verwerter. Wetten, dass hier kein rein mäzenatisches, sondern ein wirtschaftliches Interesse waltet?

Hat man die dunkle Kammer der auratisch inszenierten Originalhandschrift passiert, gelangt man in die hellen Räume der Übersetzer: Aus Denknotaten über die Eigenschaften des Wassers werden dreidimensionale Wassermodelle und ein eigens entwickeltes Computerprogramm, mit dem die Codex-Blätter entspiegelt und aus dem Italienisch des frühen 16. Jahrhunderts in einen deutschen Text übertragen wurden, ermöglicht die Lektüre der Seiten. Ganz neu ist auch das nicht; bereits 1996, also zwei Jahre nach dem Erwerb, erschien die (auch in Berlin käufliche) Leonardo-CD-ROM aus Gates’ Bild-Unternehmen Corbis.

1989 gegründet, verfügt dieses digitale Bildarchiv im Internet über ein Depot von 65 Millionen Bildern aller Art (2.1 Millionen online), inklusive den Beständen der National Gallery in London und der Petersburger Eremitage. Angesichts des riesigen Marktes für den Handel mit digitalisierten Bildern und Bildrechten, nehmen sich die 30 Millionen Dollar, die Bill Gates für den Codex Leicester ausgab, wie die sprichwörtlichen „peanuts“ aus. Der einzige ernst zu nehmende Konkurrent auf dem globalen Bildverwertungsmarkt ist aparterweise Mark Getty, Mitglied einer der profilierten amerikanischen Sammlerfamilien. Und schon ergibt Bill Gates’ Engagement als Kunstkäufer viel mehr Sinn: Zum einen haben wir es, wenig überraschend, mit dem Impuls zu tun, über einen kanonisierten Namen der Kunstgeschichte Status und Tradition teuer, aber wirkungsvoll einzukaufen; zum anderen ist für einen Sammler wie Gates der Name Leonardo da Vinci ein kraftvolles Marketingvehikel, das den Blick auf die eigentlichen Schätze in der Corbis-Datenbank lenken kann. Im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution gewährt das World Wide Web die Unsterblichkeit, die die Mäzene der ersten im kennerschaftlichen Erwerb großer Sammlungen und der Ausstattung von Museen und Bibliotheken fanden.

„Leonardo da Vinci – Joseph Beuys. Der Codex Leicester. Zeichnungen“. Bis 19. 3., Museum der Dinge, Martin-Gropius-Bau, Berlin (Informationen im Internet: www.odranoel.de oder www.leonardo-da-vinci.de ) Ab 8. 2. findet eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen satt, u. a. von Marianne Schneider (Übersetzerin des Codex). Weitere Publikationen: „Leonardo da Vinci: Der Codex Leicester / Joseph Beuys: Zeichnungen zu den Codices Madrid von Leonardo da Vinci“. 2 Bände, Richter-Verlag, Düsseldorf, Einzelpreis in der Ausstellung 49 DM (beide Kataloge im Schuber 79 DM) „Beuys und Leonardo“. Pathos-Werkstatt Kunst & Medien, München, 24 DM „Leonardo da Vinci: Fragen zur Welt“. Für Kinder ab 10 Jahren, Prestel Verlag Abenteuer Kunst, München, 22,40 DM „Leonardo da Vinci“. CD-ROM, Corbis Corporation, 39 DM