Mieser als zur Sowjetzeit

Staatliche Schikane und 200 Prozent Inflation – Weißrusslands Wirtschaft steckt in der Sackgasse ■ Aus Minsk Barbara Oertel

„Bei solch einer unklaren Gesetzeslage wird kein ausländischer Unternehmerin Weißrussland investieren“

Für Geld transportiert wiktor fast alles. Auch Leichen. „Ein alter Mann aus Georgien war hier gestorben“, erzählt der der gelernte Fotograph aus Minsk. „Seine Verwandten baten mich, ihn nach Batumi zu bringen, er wollte in seiner Heimat begraben werden.“ Der 38-Jährige hatte zunächst Skrupel, doch das Geld lockte: 900 Dollar sollte die Leichenfuhre einbringen. Wiktor erfüllte seinen Teil der Vereinbarung, die Gegenseite sah das anders. Nach sieben Tagen Fahrt und unzähligen Scherereien an den Grenzen kam er wieder in Minsk an: enttäuscht und mit 100 Dollar Lohn für die geleistete Arbeit. „Was hätte ich denn tun sollen“, sagt er und schüttelt den Kopf: „Früher hätte ich mir niemals vorstellen können, einen Toten zu transportieren.“

Seit über zwei Jahren verdient Wiktor als Fahrer den Lebensunterhalt für seine Familie. Mit seinem Mercedes-Transporter fährt er quer durch Weißrussland. Auch Ziele wie Moskau, St. Petersburg und Warschau sind keine Seltenheit. Oft kommt Wiktor tagelang nicht zu seiner Frau und seinen drei Kindern in die Zweizimmerwohnung im Zentrum von Minsk. Stattdessen befördert er im Winter meist elektronische Geräte, Möbel und Baubedarf – sowie im Sommer überwiegend Kinder und Alte. Und wenn es sein muss, fährt er eben auch mal Leichen.

Mittlerweile müssen die Weißrussen wieder alle Register ziehen, um über die Runden zu kommen. Ein Großteil lebt im Jahre 9 nach der Unabhängigkeit deutlich schlechter als zu Sowjetzeiten: liegen doch die Renten bei umgerechnet 14 Dollar, das durchschnittliche Gehalt bei 40 Dollar – aber die Preise für viele Lebensmittel auf Westniveau.

Und es wird wohl weiter bergab gehen. Zu diesem niederschmetternden Ergebnis kommt jedenfalls ein gemeinsamer Bericht, den das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und das Institut für Wirtschaftsforschung Halle zum Jahreswechsel vorlegten. „Es gibt keine Aussichten, dass sich Weißrussland aus seiner wirtschaftlichen Sackgasse befreien kann. (...) Für das kommende Jahr ist zu erwarten, dass sich die negative Entwicklung fortsetzen wird.“ Schuld sei die rückwärts gewandte, zunehmend auf planwirtschaftliche Steuerung ausgerichtete Politik von Staatspräsident Alexander Lukaschenko.

Wenngleich offizieller Provenienz und daher mit Vorsicht zu genießen, sprechen die zitierten Daten für sich: So wurden seit 1991 nur 1.900 kleinere Betriebe privatisiert, im vergangenen Jahr verlangsamte sich das Tempo weiter. In den ersten acht Monaten wurden nur 44 ehemals staatliche Unternehmen verkauft. Das Wachstum des Sozialproduktes stagnierte 1999, wohingegen das Wachstum im Jahr zuvor noch bei gut 10 Prozent gelegen hatte. Auch der private Konsum stagnierte, nachdem er 1998 um 40 Prozent gewachsen war. Die jährliche Inflationsrate liegt bei 200 Prozent und wird auch für dieses Jahr wieder im dreistelligen Bereich erwartet.

Doch den Autokraten Lukaschenko ficht das nicht an. Er hofft noch immer auf einen Aufschwung durch die mit Russland beschlossene Union, die freilich in allen Details erst noch ausgehandelt werden muss. Derweilen erstickt Lukaschenko die ohnehin wenigen Ansätze eines neuen Unternehmertums: Vor knapp zwei Monaten legte er im Dekret Nr. 40 fest, dass „zum Ziel der Deckung von Verlusten, die dem Staat entstanden sind, das Eigentum von Betrieben konfisziert werden kann“. Eine Staatssanierung auf Kosten der Unternehmer.

Alexander Drobowolski von der oppositionellen „Vereinigten Bürgerpartei“ empfindet diese neue Vorschrift als Skandal. „Dieses Dekret unterläuft ein Grundprinzip der Wirtschaft, das heißt die Unverletzlichkeit des persönlichen Eigentums“, sagt er. „Besonders schwer wiegt, dass man dagegen nicht gerichtlich vorgehen kann.“ Das schlage sich auch auf das Engagement ausländischer Unternehmer nieder. „Bei solch einer unklaren Gesetzeslage wird niemand in Weißrussland investieren“, sagt Dobrowolski. Und nicht nur das. Schon machen in Minsk Gerüchte die Runde, dass bereits ansässige ausländische Unternehmen den Rückzug antreten wollen.

Doch anders als ausländische Geschäftsleute, die allzu oft vor dem Gesetzeswirrwarr kapitulieren, haben die Einheimischen mit den diffusen Strukturen leben gelernt – und machen sie sich zu Nutze. So geht, wer in Minsk und anderswo Dollar in weißrussische Rubel tauschen will, nicht in eine offizielle Wechselstube. Lukrativer ist der Deal mit den „Walutschiki“. Die zahlen fast ein Drittel mehr für den begehrten Dollar.

Zwei Vertreter dieser Geldwechsler haben ein kleines Haus in der Nähe des Minsker Sportstadions „Dynamo“ gemietet. Die Wahl dieses Ortes ist nicht zufällig. Händler, die den Markt im Stadium bevölkern, stellen hier abends ihre Waren unter, was einen einträglichen Nebenverdienst garantiert. Wer kommt, wird promt bedient. In Windeseile zieht der Walutschik ein Riesenbündel Rubel aus der Hosentasche. „Tauschen, soviel Sie wollen“, sagt er und fragt auch gleich noch, ob Bedarf an günstigem Sekt bestehe. Die Geldbündel werden künftig etwas bescheidener ausfallen.

Gerade erst wurden neue Scheine in Umlauf gebracht, auf denen drei Nullen gestrichen sind. Damit ist die Zeit der Rechnung in Millionenbeträgen vorbei. An der wirtschaftlichen Misere hingegen dürfte das kaum etwas ändern.

Obwohl es bereits Mittag ist, füllen sich die Stände auf dem Markt im Stadion „Dynamo“ nur langsam. Neben Elektrogeräten aller Art soll vor allem Kleidung aus der Türkei und Ungarn die Kunden zum Kauf animieren. Doch die meisten befühlen nur die Stoffe und ziehen weiter, sobald sie den Preis hören. Eine Frau, dick eingepackt, steht vor einer Sammlung von Pelzmänteln. Die kosten im Schnitt drei- bis vierhundert Dollar. „Seit Tagen habe ich kein einziges Stück verkauft. Die Menschen haben kein Geld, und es wird immer schlimmer.“ Steuern und die Gebühr für den Platz machten umgerechnet pro Monat rund 56 Dollar aus. Doch wie die Summe zahlen, wenn der Umsatz ausbleibt? Wieder kommt eine Frau vorbei, betrachtet die Mäntel bloß und geht dann weiter. Die Verkäuferin weiß: Lange kann sie sich das nicht mehr leisten.