Beobachter, Historiker und Prophet

taz-Serie „Neu in Berlin“ (15): Der Schweizer Botschafter Thomas Borer-Fielding lädt gerne in seine Residenz. Manchmal erfährt er mehr als die Journalisten und lässt dann die Diplomatie spielen

Thomas Borer-Fielding (42), Schweizer Botschafter: Wie es sich für einen Schweizer gehört, bin ich am 1. August 1999, unserem Nationalfeiertag, nach Berlin gekommen. Zuvor war ich in Bern Spezialbotschafter für alle Fragen im Zusammenhang mit der Schweiz und dem Zweiten Weltkrieg. Ende des Jahres werden wir mit unserer Botschaft in die alte Residenz, Baujahr 1870, im Alsenviertel zwischen Bundeskanzleramt und Reichstag einziehen. In ein sehr traditionsreiches Gebäude, das sogar den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hat. Als Botschafter vertrete ich meine Regierung und wahre dort die Interessen meines Staates. Ein Diplomat versucht immer zugleich Beobachter, Historiker, Prophet und aktiv Handelnder zu sein.

Auch bei einem Nachbarn wie Deutschland besteht permanent Bedarf, die Schweiz in ihren Grundzügen und in Einzelaspekten zu erklären. Die Deutschen stellen besonders in unserem Fall Fragen: einem eigenwilligen „Kleinstaat“ außerhalb der EU. Aber eigentlich ist es falsch, vom „Kleinstaat“ Schweiz zu sprechen. Die Schweiz ist wirtschaftlich eine starke Mittelmacht. Sie hat in absoluten Zahlen das achtgrößte Bruttosozialprodukt in Europa.

Die Stärke eines Botschafters ist vor allem sein Beziehungsnetz. Manche Diplomaten konzentrieren sich auf Politiker, Beamte oder Berufskollegen. Ich glaube, dass es wichtig ist, darüber hinaus einen umfassenderen Bekanntenkreis zu erschließen. Als in einer Stadt neu ankommender Diplomat ist man natürlich gegenüber anderen Menschen privilegiert. Es gibt institutionelle Rahmen, die die Kontaktaufnahme erleichtern. In der Regel sind wir Diplomaten extrovertierte Persönlichkeiten. Ansonsten wird man unglücklich in unserem Beruf.

Wenn ich zum Essen einlade, überlege ich mir, welche Persönlichkeiten ich zusammenbringen will, welches Thema ich diskutieren möchte. Ich stelle mir dann einen spezifischen Gesprächskreis zusammen. Da teste ich auch meine Thesen und Ansichten über aktuelle Themen. Ich lade gerne die unterschiedlichsten Leute ein: Politiker, Künstler, Wirtschaftsführer, Diplomaten, Beamte, Journalisten und die Frau und den Mann von der Straße.

In Berlin herrscht gemäß Fontane immer Gründerzeit. Jetzt besonders. Die Gesellschaft formiert sich erst. Es kommen immer wieder Einladungen zustande, wo man sich fragt, warum war ich da eingeladen. Da habe ich gar nichts zu suchen. Oder umgekehrt hat man Leute bei sich zu Hause, und denkt, was für ein Glück, dass ich auf diese Person gestoßen bin. Ich versuche bewusst, auch engen Kontakt zu Personen aus den neuen Bundesländern aufzubauen. Jemand, der in der ehemaligen DDR gelebt hat, ist für mich per se interessant. Westbiografien gleichen meinem eigenen Leben viel mehr. Ich würde mir für Deutschland wünschen, dass man die getrennte Vergangenheit auch als Chance begreift. Wir Schweizer glauben, dass die kulturelle Verschiedenheit der Schweiz eine unserer Stärken ist. Schweizer aus der Romandie oder dem Tessin bringen oft eine andere Sicht der Dinge oder Erfahrung in die Diskussion ein als ich als Deutschschweizer.

Große Unterstützung erfahre ich durch meine Frau, Shawne Fielding. Es wird oft vergessen, welch wichtige Funktion die Partnerin eines Botschafters hat. Wie viele Gattinen von Diplomaten stellt Shawne ihre eigene Karrierezurück, um mich zu unterstützen. Als Schauspielerin ist Berlin für sie nicht der ideale Wohnsitz. Sie müsste in den USA leben, um genügend gute Filmrollen zu erhalten. Aber ihr gefällt es sehr gut in Berlin und sie engagiert sich im Wohltätigkeitsbereich.

Eine der zentralen Aufgaben einer Botschaft besteht in der Berichterstattung über die Innen- und Außenpolitik, die Wirtschaftspolitik und Kultur im Gastland. Die Schweizer Regierung verfolgt die deutsche Politik natürlich aufmerksam, auch über die deutschen Zeitungen. Daher müssen meine Mitarbeiter/innen und ich in unseren Berichten einen Mehrwert bringen. Das gelingt vor allem, weil man einem Diplomaten oft mehr sagt als einem Journalisten. Beim Diplomaten ist man sicher, dass es am nächsten Tag nicht in der Zeitung steht. Zudem müssen wir sehr oft über spezifische Fragen berichten, welche die Medien gar nicht interessieren, etwa zu diesem oder jenem Aspekt einer internationalen Konvention oder Verhandlung. Für mich ist es wichtig, dass man die Akteure und die entsprechenden Anlässe in Deutschland selbst erlebt. Man konnte zum Beispiel den SPD-Parteitag im Dezember 1999 auch im Kanal Phoenix verfolgen. Aber ich halte es für wichtig, direkt vor Ort dabei sein zu können und mit den Delegierten zu reden. Nur dann kann man das Geschehen und die Stimmung richtig „spüren“. Zu-
gehört hat Annette Rollmann