Raus aus Reihe 7 der Synagoge

Die Berliner Gruppe Yachad ist der größte Verein lesbischer, schwuler und bisexueller Jüdinnen und Juden in Deutschland. Ein Kampf – in der Gesellschaft und der Gemeinde ■ Von Philipp Gessler

Von Woody Allen gibt es den Witz über den Schwarzen, der im Rollstuhl in der New Yorker U-Bahn sitzt und eine jüdische Zeitung herauskramt. Als ein Jude das sieht, fährt er ihn an: „Jetzt übertreiben Sie aber!“

Können die Mitglieder von Yachad über solche Witze lachen? Yachad ist ein „Verein lesbischer, schwuler und bisexueller Jüdinnen und Juden“. Die größte deutsche Yachad-Gruppe gibt es in Berlin – keine Wunder, denn Berlin hat mit Abstand die größte jüdische Gemeinde der Bundesrepublik. Und Frauen, die Frauen, und Männer, die Männer lieben, gibt es in allen Bevölkerungsgruppen und Religionen – also auch im Judentum.

Doch wie lebt es sich als Minderheit in einer Minderheit? Wie fühlt man sich, wenn man aus beiden Identitäten ein Selbstverständnis entwickelt? Und ist das überhaupt möglich angesichts der Tatsache, dass die eine Identität, die Religion, die andere, die Homosexualität, ausdrücklich ausschließt, zumindest theoretisch?

„Du sollst nicht mit einem Mann schlafen wie mit einer Frau; ein Gräuel ist das“, heißt es im 3. Buch Mose (18, 22). Der Talmud sieht in Liebesakten zwischen Frauen eine „Obszönität“ (perizút, Jevamot 76a). Der Berliner Ephraim Ritter (31) wischt dies nicht als altes Zeug beiseite, Religion ist ihm wichtig. Das erkennt, wer ihn zu Hause besucht:

Der Angestellte eines Umzugsunternehmes lebt mit zwei anderen Yachad-Mitgliedern in der „einzigen schwulen jüdischen WG Berlins“ zusammen, wie er sagt. Und die sieht so aus: Im Flur ein Poster der Transvestitin Dana International, die für Israel den europäischen Chansonwettbewerb gewonnen hat, und ein anderes von einem preisgekrönten israelischen Schwulenfilm, „Amazing Grace“. Am Ende des Flurs ein riesiger blauer Davidstern. In der Küche zwei Kühlschränke, einer für Milch-, einer für fleischliche Speisen. In den Zimmern siebenarmige Leuchter, Regenbogen- und Israel-Fähnchen. Ein Ölbild von zwei Männern mit Schläfenlocken und orthodoxer Pelzmütze, die sich, den Oberkörper entblößt, umarmen. Und Mesusa, kleine Röllchen mit einem Vers der Heiligen Schrift, an jedem Türrahmen, die Ephraim beim Nachhausekommen wie jeder fromme Jude mit der Rechten berührt. Neulich hätten sie hier 12 „Jungens“ aus Israel untergebracht, erzählt Ephraim begeistert.

Ephraim liebt seinen Glauben, und so ist es logisch, dass er die Verdammung der Homosexualität in der Bibel mit einem Spruch aus der Heiligen Schrift kontert: „Über alles lieb warst du mir“, sagt König David zu Jonathan (2 Samuel 1,26), „wunderbar war mir deine Liebe, mehr als Frauenliebe.“ Irdischer argumentiert er auch: Die Schrift sei nun einmal 3.000 Jahre alt, da könne man sie doch nach dem heutigen Verständnis interpretieren. Und: „Wenn Gott mich gemacht hat, hat er mich schwul gemacht.“

An diesem Abend ist Yachad-Treffen in einer Schwulenkneipe im Bayerischen Viertel. Als Erster ist der Vorstand des Vereins, neben Ephraim auch Léontine Meijer (27) und Miccaela Potter-Dulva (42), gekommen.

Kommen kann jeder, es gibt eine Kontaktnummer in der Zeitschrift der Berliner Gemeinde. Man trifft sich hier, erklärt Léontine, da diese Kneipe kein klassischer Szeneort sei und es deshalb vielen leichter falle, hierher zu kommen, erst einmal am Seitentisch zu spähen, um sich dann dazuzusetzen. Wie gerufen kommt ein älterer Herr hinein und fragt: „Ihr seid doch der jüdische Verein. Ich bin der David.“

„Yachad“ bedeutet auf Hebräisch „gemeinsam“. Der Name ist Programm. Denn es geht um ein gemeinsames Auftreten von Schwulen und Lesben jüdischer Religion in einer mehrheitlich christlichen und heterosexuellen Gesellschaft: „Ein politisches Statetement“, wie Léontine betont. Yachad ist zugleich eine Demonstration auch innerhalb der jüdischen Gemeinden, wo es laut Ephraim so viele Homophobe gibt wie in allen anderen Gruppen auch: Ihnen gegenüber gemeinsam Flagge zu zeigen, darum geht es: demonstrieren, dass Schwule und Lesben zur Gemeinde gehören. Während der alte Gemeindevorstand noch vor Jahren betonte: „Das Problem gibt es nicht“, hat der neue liberale Vorsitzende Andreas Nachama Yachad schon konkrete Hilfe zugesichert und auch geleistet. Die Yachad-Gruppe hat Zugriff auf Gemeinderäume, die Kontaktanzeige ist in der Gemeindezeitschrift seit Nachamas Amtsantritt zu finden.

Aber es gibt auch Gegenwind von den Glaubensgenossen. Léontine erzählt amüsiert von der „Schwulenbank“ in der Reihe 7 der Synagoge in der Pestalozzistraße. Die werde von vielen Männern gemieden und fülle sich immer erst dann, wenn wirklich kein anderer Platz frei sei. Ganz zu schweigen von der anderen Bank der alten Schwulen, von denen sich allerdings die meisten bis heute nicht geoutet hätten. Seitdem die vielen Zuwanderer aus der GUS, die „Russen“, wie Ephraim sagt, die Sache mit der Reihe 7 und den relativ vielen Lesben beim egalitären Gottesdienst in der Oranienburger Straße mitgekriegt hätten, kämen viele nicht mehr in die Synagoge. „Wir sind bekannt. Ob wir beliebt sind, weiß ich nicht.“ In vielen jüdischen Gemeinden gehe man mit homosexuellen Mitgliedern nach dem Motto um: „Don’t ask, don’t tell.“

Umso wichtiger sind Léontine, Miccaela und Ephraim Informationsabende des Vereins zum Thema „HIV“ oder „9. November“. Sowie die gemeinsamen Chanukka- oder Pessach-Feiern, in denen Gemeinschaft erfahrbar ist. Und das, auch wenn die „politisch korrekten Versionen“ der Gebete etwa zweimal länger dauern als die herkömmlichen, wie Miccaela amüsiert berichtet: Neben allen Urvätern wie Abraham werden alle Urmütter wie Rachel erwähnt. Es sei wie Weihnachten, erklärt Ephraim: „Jeder macht sich darüber lustig, aber dann stehen doch alle am Baum und weinen.“ Viele hätten wegen ihrer Homosexualität Probleme mit ihren Eltern, ergänzt Léontine. Yachad wirke da wie eine Art „Substitutfamilie“.

Den Eltern fällt es in der Regel nicht so leicht, die Homosexualität ihrer Kinder zu akzeptieren. Miccaela, die einen kleinen Davidstern mit rosa Dreieick trägt, erzählt, ihr Vater, ein Sizilianer, habe als Italiener, Mann und Jude bis heute ein Problem damit: „Mit meinem Vater kann man darüber nicht reden.“ Ephraim berichtet, seinen Eltern falle es schwer, darüber hinwegzukommen, dass die Familie trotz ihres Überlebens der Shoah nun keine Nachkommen haben werde. Und die Mentalität ihrer Eltern fasst Léontine so zusammen: Bloß nicht auffallen, „am liebsten ruhig und Gardinen zu“ – das Gegenteil ihres offenen Auftretens als Jüdin und Lesbe.

Dabei hat ihre Familie schon Erfahrung: Eine ihrer Schwestern in den Niederlanden hat auch eine lesbische Partnerin und zwei Töchter mit den betont jüdischen Namen Raizel (Rose) und Bloeme (Blume). Wenn die zu Besuch seien, rate sie ihnen, ihr Davidstern-Kettchen abzunehmen – wegen der Skins in Frankfurt (Oder) („mit Davidstern kommt man da nicht lebend raus“) oder seltsamer Blicken: „Man kann auch positiv angeschaut werden.“

Die Religion ist in der Yachad-Gruppe sowohl Kleb- wie Sprengstoff: Einerseits trenne die Gruppe oft ihr unterschiedlicher Grad an Frömmigkeit. Gerade den bodenständigen Israelis, in deren Land die Integration Homosexueller selbst in der Armee viel weiter sei, würden die Gebete vor gemeinsamen Mahlzeiten oft viel zu lang. Andererseits, sagt Ephraim, schaffe die Religion unausgesprochene „unterschwellige Gemeinsamkeiten“. „Es läuft auch viel über die Opfergeschichte“, erklärt Léontine, die Geschichte studiert hat.

Yachad bringt etwas zustande, was in der Homosexuellenszene nicht immer klappt: Während Schwule und Lesben oft nicht viel miteinander anfangen könnten, ist Yachad eine der wenigen Gruppen, in denen Zusammenarbeit funktioniert. Es gibt eben noch mehr Verbindendes als den politischen Kampf um sexuelle Selbstbestimmung. Da eint Religion. Für manche Rituale, wie das Anzünden der Sabbatkerzen oder die Segnung der Speisen, könne man entweder nur Frauen oder nur Männer brauchen.

Liegt es an diesem außergewöhnlich guten Miteinander, dass Yachad auch vielen in der Schwulen- und Lesben-Community fremd bleibt? Antisemitismus gebe es natürlich auch unter ihnen, erläutern die Yachad-Mitglieder. Er sei jedoch gelegentlich anders verkleidet: Da viele Homosexuelle, angefeindet eher von rechten Deutschen, zum linken Politspektrum neigten, werde die Politik der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels gegenüber den unterdrückten Palästinensern kritisch beurteilt: So könne man hören, erzählt Ephraim, man habe ja nichts gegen Juden – „aber was ihr mit den Palästinensern macht!“.

Und was heißt das alles nun für die Liebe? Yachad als Heiratsmarkt zu nutzen, das klappe in der Regel nicht, meinen Ephraim und Léontine übereinstimmend. Er hat einen „Goi“ als Partner, wie Ephraim ironisch-abfällig sagt. Auch Léontine ist mit einer Nichtjüdin zusammen. Das ist kein Problem. „Ich bin so glücklich“, sagt sie, „da ist das nicht wichtig.“ Bei einer früheren, sehr linken Partnerin habe sie es sogar ertragen, dass die aus politischen Gründen den Genuss von „Jaffa-Orangen“ abgelehnt habe. Trotzdem waren sie drei Jahre zusammen.