Coole Objekte der Begierde

Oskar Roehlers „Gierig“ handelt von Sex, Koks und Sehnsucht im Neonlicht ■ Von Rainer Gansera

In neonkalt ausgeleuchteten Räumen wird Sex zum selbstzerstörerischen Verzweiflungsakt zur Betäubung der Gefühle

Sphinxaugen, die kalt blitzen und kokett spielen, die flehentlich hin und her gehen und angstvoll erstarren. Sie geben dem Melodram Gestalt, machen lesbar, was in den Worten verschwiegen wird. „Gierig“ erzählt von der Sprachlosigkeit der Gefühle und von der vergeblichen Suche nach dem Blick des anderen, indem er in Jasmin Tabatabais Augen schaut. Es gibt Regisseure, die Komplizen ihrer männlichen Helden sind, und solche, die sich zu Vertrauten ihrer Frauenfiguren machen. Oskar Roehler ist ein Frauen-Regisseur. „Gierig“, sein zweiter Spielfilm, der endlich den Weg ins Kino gefunden hat, lebt aus der Nähe zu seiner Heldin Natascha und ihrer Darstellerin. Er gibt Jasmin Tabatabai Spielraum und fordert sie heraus. Noch nie hat man sie so wandlungsfähig gesehen: mal burschikos, mal ladylike, mal mit abweisender Coolness, dann wieder vibrierend verletzlich.

Natascha ist Journalistin, mit dem Nachtclubbesitzer und Performancekünstler Gary (Richy Müller) verheiratet. Die beiden brauchen einander, lieben sich auch noch, aber das gestehen sie sich nicht ein. Sex holen sie sich von anderen. Ein Beziehungsarrangement, das die Gefühle martert und im Unausgesprochenen belässt. Nach seiner Bühnenshow wird Gary vom Szenegroupie Suzi (Nele Mueller-Stöfen) angesprochen und lässt sich zu Spielchen der härteren Gangart animieren. Natascha schaut dem Treiben in einer Mischung aus Eifersucht, Zorn, Trauer und kalter Faszination zu. Sie rächt sich, indem sie einen Boxchampion zum Objekt ihrer Begierde macht: Sugar (Gregor Törzs), der von seinem Manager eifersüchtig bewacht wird. Roehler zeigt Sex als selbstzerstörerischen Verzweiflungsakt. Mehr Schmerz als Lust. Ein Akt, in dem die Betäubung der Gefühle gesucht wird oder wenigstens die Betäubung des Bewusstseins, dass man mit den Gefühlen nicht klarkommt. Die kalt ausgeleuchteten Räume des Nachtclubs werden zum ausweglosen Labyrinth für selbstquälerische Rituale hinter der Maske des Begehrens.

Gary hat Ohnmachtsanfälle und erfährt in der Klinik, dass ein unheilbarer Gehirntumor die Ursache ist. Die grelle Nüchternheit des Klinikkorridors wird durch opernhafte Musik zum pathetisch aufgeladenen Schicksalsraum, in dem Tränen dem verspielten Leben nachgeweint werden. Dass Gary nur noch eine kurze Lebensfrist hat, lässt die Gefühle zwischen ihm und Natascha wieder aufglimmen. Es kommt zu einer melancholiegetränkten Liebeserklärung – aber im nächsten Augenblick wendet er sich ab und überlässt sie dem Boxer. Scheinbar gleichgültig, als wären die Gesten des Vertrauens und der Zärtlichkeit eine Fata Morgana gewesen. Immer wieder kontrastiert der Film forcierte Sentimentalität mit provozierender Härte. Auf den hübsch kitischigen Song „Porqué te vas?“, den Natascha mit verspielt verführerischem Augenaufschlag auf Japanisch singt, folgt die wüste Bühnenshow einer Sex-Pistols-artigen Band. Das vorsätzliche Hin und Her von Kitsch und Krassheiten – Ausdruck der verzweifelten Gefühlslage seiner Helden – dekliniert Roehler beinahe in jedem Moment des Films. Manchmal zerrt das an den Nerven, manchmal ist es ein ergreifender Balanceakt. Schrecklich und schön. Melomuster in trashiger Direktheit. Dass Roehler den Mut dazu hat und seine Figuren dabei ganz ernst nimmt, macht „Gierig“ zu einem der eigenwilligsten und aufregendsten deutschen Filme der jüngsten Zeit.

Roehlers Männer sind Analphabeten der Liebe, Gefühlsdilettanten. Sie sind entweder zu naiv (Sugar) oder zu abgebrüht (Gary). Das Schicksal bestraft sie dafür und macht aus ihnen Schmerzensmänner, körperlich Gezeichnete. Sugar kommt mit zerschlagenem Gesicht vom Boxkampf und muss bei Natascha gleich die nächste Niederlage einstecken. Gary ist von Anfang an der vom Tod Gezeichnete: mit seinen Ohnmachtsanfällen und den zitternden Händen, die keine Tasse ruhig halten können. Aktive Verführer sind diese Typen niemals. Das übernehmen die Frauen. Sie wissen, was sie wollen, und haben magische Kräfte. Sie kennen das Zauberwort. Im Nachtclub steht, zur Statue erstarrt, eine halb nackte Frau. Wie kann man sie befreien? Wie heißt das erlösende Wort? Natascha und ihre Freundin zählen auf: „Weltschmerz, Anmut, Verzweiflung, Leben“ – der Bann ist gelöst. Nicht der Kuss des Prinzen, sondern das Zauberwort der Freundinnen hat Dornröschen wieder zum Leben erweckt.

Roehler taucht seine Figuren in eine fahle, von kaltem Neonlicht bestrahlte Atmosphäre aus Todessehnsucht, Provokation und Sentimentalität. Die Story sucht auf dem direktesten Weg das Pathos, verliert sich aber bisweilen in ein banales und hilfloses Erzählen. Immer aber, wenn Roehler ganz nahe an seine Figuren herantritt und ihre Gesichter erforscht, gewinnen seine Bilder eine albtraumhafte Dichte, der man sich nicht entziehen kann. Sein Zentrum hat „Gierig“ in Jasmin Tabatabai. Sobald die Kamera ihre Augen findet, ist der Film bei sich.„Gierig“. Regie: Oskar Roehler. Mit Jasmin Tabatabai, Richy Müller, Gregor Törzs, Deutschland 1999, 83 Min.