Der Mut der frühen Schlachten

Von den wunderlichen Erlebnissen bei der heutigen Betrachtung des Europapokalfinales 1960, Real Madrid – Eintracht Frankfurt (7:3): Eine Erzählung des spanischen Schriftstellers ■ Javier Marías

Ich bin nicht der einzige Anhänger, der in der laufenden Saison nur mäßiges Interesse am Fußball zeigt, zum erstenmal vielleicht, seit ich mich ihm mit sieben Jahren zuwandte und meine allererste Bildersammlung anlegte, die später verloren ging und für die ich heute, wenn sie vollständig wäre, ein Vermögen geben würde. Bei uns Jungen war dieses Album mit Sammelbildern unter dem Namen „Die Dickschädel“ bekannt, weil der von einem Foto abgemalte Kopf der Spieler wesentlich größer war als der Körper, was sie wie Witzfiguren wirken ließ, mit herausgefallenen und achtlos behandelten Verteidigern neben unseren Idolen.

Aus dieser Sammlung erinnere ich mich noch an ganze Mannschaftsaufstellungen, die von Real Madrid, von Barça, von Athletic Bilbao, ebenso wie an die Schwierigkeiten, ein Bild des Mittelstürmers von Atlético Madrid, Mendonça zu bekommen – in jeder Sammlung gibt es etwas, das besonders schwer zu ergattern ist. Die Schwierigkeiten waren so groß, dass ich auf dem Schulhof, auf dem die Atmosphäre eines Wochenmarktes herrschte, nicht etwa einen Haufen überflüssige „Doppelte“ dagegen eintauschen musste, sondern ein kleines Foto von meiner Tante Tina, die damals ausgesprochen hübsch und beträchtlich jünger war als meine Mutter, oder Mütter im allgemeinen. (Sie hat nie davon erfahren; und ich weiß nicht, ob sie mir heute verzeihen würde, dass ich sie damals gegen einen Angeber aus Mosambik eingetauscht habe.)

Vielleicht also, weil die laufende Saison bisher so langweilig war, lud ich einen Freund aus Deutschland ein, der lange in Frankfurt gelebt hat, um bei mir eine Videoaufzeichnung des fünften Europapokalendspiels anzusehen, bei dem Real Madrid Eintracht Frankfurt mit einem 7:3 aus dem Finale katapultierte, ein unvergessliches Ergebnis. Der Freund aus Deutschland ist jünger als ich, und so hatte er weder Di Stéfano noch Puskas oder Gento je spielen sehen, und das bescherte ihm mehrere Überraschungen. Zunächst einmal konnte er (trotz der Aufzeichnung in Schwarzweiß, denn dieses Finale fand 1960 statt) feststellen, dass der Unterschied zwischen den technischen Fähigkeiten damals und heute wesentlich geringer war, als er gedacht hatte; wahrscheinlich ließen sich die Mannschaften einfach mehr Raum und hingen sich nicht so sehr auf der Pelle, das war alles. Ein Zweites war, zu erkennen, dass wegen des damaligen Auswechselverbots alle zweiundzwanzig Spieler die neunzig Spielminuten ohne sichtbare Müdigkeit überstanden und dennoch nicht weniger druckvoll spielten, auch wenn der Sieger bereits feststand. Ein Drittes war die Wahrnehmung, wie selten das Spiel unterbrochen wurde: Kaum jemand wurde verletzt oder fiel auch nur zur Boden (der Schiedsrichter pfiff einen Elfmeter für Real Madrid, weil Di Stéfano so leicht geschubst worden war, dass er lediglich aus dem Gleichgewicht geriet und sich nicht etwa auf den Boden warf oder hätte fallen müssen); niemand spielte auf Zeit; wenn der Ball im Aus war, kam er sofort wieder ins Spiel. Die vierte Überraschung waren die seltenen Fouls und das Fehlen von Meckereien und Diskussionen: Die Frankfurter protestierten nicht einmal nach dem ungerechtfertigten Elfmeter. Die fünfte war, mitanzusehen, wie ein Stadion, nämlich das Glasgower, mit einhundertunddreißigtausend Menschen vollgestopft war, die nicht die geringsten Schwierigkeiten machten oder Streit anfingen, ohne dass dafür Schutzwälle, Gräben oder Krokodile notwendig gewesen wären. Die sechste Überraschung war, dass die Spieler bei einem Europapokalfinale ihre Angst, ihre Nervosität, ihre Unsicherheit und den – wie man heute gerne sagt – Druck vollständig in der Kabine gelassen hatten: Denn beide Mannschaften setzten konsequent auf Angriff und ließen keinen Zweifel daran, dass es darum ging, Tore zu schießen, und nicht etwa darum, sie zu verhindern, und sie hatten zu allem Überfluss auch noch Spaß dabei. Di Stéfano, der die Videobilder, die ich aufgenommen hatte, kommentierte, gestand angesichts der zahlreichen Hackentricks und Raffinessen: „Der Trainer wurde gelegentlich nervös und bat mich, mit den Hackentricks aufzuhören, weil ich meine Kameraden damit ansteckte; bei mir wären die Hackentricks ja nicht so schlimm, sagte er, aber wenn die ganze Mannschaft damit anfinge, wäre das glatter Selbstmord; aber was soll’s, wir wollten ja auch unseren Spaß haben, oder?“ Die siebte Überraschung war, dass damals – vor der Erfindung des Liberos, vor Beckenbauer – selbst die scheinbar rauhbeinigsten und härtesten Verteidiger eine unglaublich gute Technik besaßen, um die sie heute fast alle Spieler, für die Millionen gezahlt werden, beneiden dürften. Marquitos, der rechte Verteidiger, brachte es fertig, einen überaus gefährlichen Ball einen Meter vor dem Tor mit der Hacke zur Ecke zu klären.

Heutzutage würde ihn der Trainer dafür bestrafen; genau wie all die anderen Hackentrickkünstler, Di Stéfano eingeschlossen; Puskas dafür, dass er trotz seiner vier Tore nicht genug lief; Gento dafür, dass er mit all seinen kunstvoll gelupften, getunnelten und mit der Hacke ins Tor gespielten Bällen den Ballbesitz aufs Spiel setzte; alle zusammen dafür, dass sie so offensiv gespielt und bei Fouls keine schweren Verletzungen vortäuschten, dafür, dass sie sich durch allzu viel Laufarbeit müde spielten, und als das Ergebnis schon feststand, noch Verletzungen riskierten; Di Stéfano auch dafür, dass er sich bei dem Foul im Strafraum nicht gleich auf dem Boden wälzte; und selbstverständlich die gesamte Mannschaft dafür, dass sie so erkennbar gewinnen wollte und sich damit über die zur Zeit geltende Devise „Um zu gewinnen, darf man vor allem nicht verlieren“ hinwegsetzte. Unsere heutigen Trainer werfen mit solchen Sätzen um sich und kommen sich dabei auch noch großartig vor. Ich weiß nicht, wie die Spieler das ertragen, ohne zu entgegnen: „Wirklich? Tolle Erkenntnis.“

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta entnommen aus: Javier Marías: „Alle unsere frühen Schlachten. Fußball-Stücke“. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Paul Ingendaay. Aus dem Spanischen von Alexander Dobler und Catalina Rojas Hauser. © Javier Marías 2000. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 34 DM