Vride, Vrouwe!

Wahre Lokale (5): Der „Waldfrieden“ in Hamburg-Neugraben

„Friede“, lehrt die Etymologie, sei ein Wort altgermanischer Herkunft und bedeutete damals, als Wotan noch was zu melden hatte, „Schonung, Freundschaft“. Etwa zur selben Zeit müssen hier, in Hamburg-Neugraben, c/o Schwarze Berge, zum ersten Mal Männer und eher gar keine Vrouwen zusammengekommen sein, um der Tagesglut mit Vergorenem aus hohlen Keilerzähnen zu trotzen.

Im Prinzip glauben die Eingeborenen bis heute an die alten Götter. Gewiss, vorsichtshalber besuchen sie die Tempel des Gekreuzigten – jedenfalls wenn hundert Klafter südlich, auf dem „Waldfriedhof“, einer der ihren zur Fahrt gen Walhall gesandt wird. Danach aber, wohin auch sonst, wanken sie unfehlbar ins Lokal „Waldfrieden“ bzw. lassen sich mit dem Linienbus zur hauseigenen Haltestelle chauffieren.

Waldfrieden! Jenen, denen welsche Mod’ das Bärenfell einst verbot, zeigt der magische Name an die allgemeine Bruderschaft, ja Harmonie, die unterm schirmenden Grüne der Erle oder Buche oder, bei Thor, zweier verhungerter Birken gedeiht. Sofern, beim Kuckuck!, ein Fass des perlenden Gerstenschweißes vorhanden ...! Für den „Drink“ aber sorgt der Wirt resp. einer seiner „Ratsherrn“. Er sorgt außerdem für eine Möblierung des Thing-Platzes, die sich den Loki schert um neuzeitlichen Tand und Trend: Das Hirschgeweih entragt der Mauer ganz ungescheut, neben dem Schnapsschrank hängt das Rad, auf das bis vor kurzem freche Fremde geflochten wurden. Dunkle Eiche überall und Riemenschneiderhobelschnitzel. In der Ecke Souvenirs vom Druidenkameradschaftsverband. Die Speisekarte weiß um die Genügsamkeit des echten Recken und fasst sich kurz: Winters gibt’s nichts, im Sommer gesottenes Schwein.

Natürlich, die Ureinwohner sterben aus, dass die Kapelle nur so raucht; kaum ein Spross, der was taugt, wächst nach. Und man fragt sich allerdings, wo Tilman Zülch denn bleibt. Derweil stellt sich die Lage im „Waldfrieden“ so dar: Wenn ich vormittags zum Kiosk marschiere, hocken, durch die Adogardinen gut zu erkennen, etwa drei Gestalten am Tresen und machen ziemlich viel Krach. Hole ich mir abends, gegen zwanzig Uhr, die zweite Zigarettenration vom Automaten, ist der „Waldfrieden“ so was von dunkel und dicht: Kein Sterbensröcheln. Null! Man geht hier, Ragnarök nicht vorzeitig zu provozieren, mit den Hühnern ins Bett.

Und dienstags? „Dienstags Ruhetag“, meldet eine Baumscheibe in Brandrunen. August vergangenen Jahres besuchte mich der notorische Vielschreiber und Schenkenschreck Joe Kroth. Nach einem strapaziösen, fast fünfzehnminütigen Trekking durch Wald und Fischbeker Heide kehrten wir – früher Nachmittag, Schafwolkenherden am Himmel – durstig, sehr, sehr durstig zum „Waldfrieden“ ein. D. h. – wir nahmen auf der Terrasse Platz, dort, wo ein Plastikstuhl noch wie ein Plastikstuhl aussieht. Im Lokal selbst weilte allein der Wirt, der sich gar nicht mal freute, dass wir ihn beim Mittagsschlaf störten. Kroth, der das Gezapfte (Nullvier für viervierzig) kennerisch als üble Brühe identifizierte, gab sich dennoch alle Mühe, den Mundschenk auf Trab zu halten. „Herrlich hier! Das nenn’ ich Urlaub!“, schrie er ein ums andere Mal und prostete alle zwanzig Minuten den Leuten, die dem Bus entstiegen, fröhlich zu.

Uns Gesellschaft leisten mochte freilich niemand. Bis, endlich, SIE kam. Ungeduldig hatte ich SIE bereits erwartet: Täglich zwischen Frühjahr und Frühherbst, immer zwischen drei und fünf, manchmal sechs Uhr, setzt SIE sich in den Biergarten des „Waldfriedens“ und hält Audienz. Krumm wie ein verhauner Nagel, alt wie die Schwarzen Berge, aber zweifellos im Kopfe besser beieinander als Kroth und ich zusammen, wuchs sie jetzt aus dem Boden, trippelte mit ca. 1 km/h zu IHREM Stammplatz und, hastdunichtgesehen, servierte der Wirt IHR Stammgedeck: ein Ascher für die Zigaretten, Kaffee und Wein, die SIE höchst zierlich verzehrte.

Wir halbstarken Zecher wurden knapp von IHR geduldet. Denn natürlich ist SIE keine schlichte Greisin. Hier, wo Frauen seit Äonen sich fernzuhalten haben, kann doch IHR die Anwesenheit nimmer verwehrt werden. Denn – SIE ist die Patronin des Waldes selbst, Dryadenkönigin, die Garantin des Friedens, der diesen Ort so zaubrisch umwebt, dass Kroth und ich erst gehen mochten, als ein blöder Termin dazu nötigte.

SIE sah uns kaum nach. Leider macht die Dryade sich dieser Tage, da der Wald im Winterschlaf liegt, rar. Also, o Götter, besorgt, dass eure gnadenreiche Abgesandte gleich mit den ersten warmen Tagen des Jahres zurückkehre auf ihren Stammplatz!

Ich vermisse SIE. Und dem Wirt, der wirklich nicht viel zu tun hat, fehlt SIE, glaube ich, noch mehr. Kay Sokolowsky